„Die Liebe seines Lebens“: Vergebung ist nicht umzubringen

„Vergebung ist der Duft, mit dem das Veilchen den Absatz bestäubt, der es zertreten hat.“ Diesen Satz von Mark Twain zitierte der 95-jährige ehemalige Olympiasprinter Louis Zamperini, als er im Interview über sein Leben erzählte. Zamperinis Vergebungsgeschichte erzählte Angelina Jolies Film „Unbroken“ (2014), der auf den Memoiren des Sportlers beruht. Zamperini wurde als Kriegsgefangener von einem sadistischen Aufseher gequält, am Ende des Films erfährt man, dass er später seinen Peinigern verziehen hat.

Der ein Jahr ältere, aber erst jetzt in Europa zu sehende Film „The Railway Man“ (deutsch „Die Liebe seines Lebens“) erzählt eine ähnliche Geschichte. Auch ihm liegen Memoiren zugrunde, auch er handelt von einem amerikanischen Kriegsgefangenen in Japan, Eric Lomax, der sein Trauma nur durch Vergebung überwinden kann. Nur dass diese hier im Unterschied zu „Unbroken“ ohne (christliche) Religion erfolgt, dafür mithilfe weiblicher Liebe: Nicole Kidman und Colin Firth als in der zweiten Lebenshälfte zueinanderfindendes Paar spielen ihre Rollen mit einer stillen Reife und Innerlichkeit, die den Film trotz Schwächen sehenswert macht. Lomax' Leiden an der Vergangenheit und die Vergangenheit selbst greifen trotz Eisenbahn-Leitmotiv (Lomax musste als Gefangener beim Bau einer Eisenbahn helfen und bleibt besessen von Zügen) nicht recht ineinander.

 

Realistischer als „River Kwai“-Film

Was die grauenhafte Behandlung der Kriegsgefangenen angeht, ist „Die Liebe seines Lebens“ freilich realistischer als der Klassiker „Die Brücke am River Kwai“, in dem die Gefangenen so wohlgenährt aussehen. Wie sie musste Lomax beim Bau der Thailand-Burma-Eisenbahn mitarbeiten; weil er heimlich ein Radio baute, wurde er gequält, gefoltert.

In „Die Liebe seines Lebens“ erfolgt Vergebung kondensiert; ein Schlüsselmoment ist die dramatische Konfrontation Lomax' mit seinem ehemaligen Peiniger Nagase, die Lomax vom Rachedurst zur Erkenntnis gelangen lässt, dass Gewalt ihm nicht helfen wird. Die fast mit einem Mord endende Begegnung im Lager ist – verzeihliche, weil dramaturgisch erforderliche – Fiktion; Lomax' Memoiren erzählen von einem langen inneren Prozess. Wieder rettet nur die Kunst der Darsteller, in diesem Fall Colin Firth und Hiroyuki Sanada als Nagase, die Szene vor dickem Gefühlskitsch. Vergebung von etwas, was unvergebbar scheint und nie bestraft wurde, ist schwer darzustellen, es wirkt leicht unglaubwürdig, weil so schwer nachzuvollziehen.

Vergebung hatte immer etwas Verrücktes. Aber obwohl die Religionen, in denen sie eine Schlüsselrolle spielt, so an Bedeutung verloren haben, ist die Vergebung, das zeigt auch Hollywood, offenbar nicht umzubringen. In der Aufklärung galt sie als zentrales Charakteristikum wahrer Menschlichkeit – Iphigenie führt sie in Goethes Drama vor, wenn sie Orest vergibt, und Mozarts „Entführung aus dem Serail“ predigt: „Nichts ist so hässlich wie die Rache ( . . . ) und ohne Eigennutz verzeih'n ist nur der großen Seelen Sache. Wer dieses nicht erkennen kann, den seh' man mit Verachtung an.“ Vergebung zur Selbstheilung empfiehlt die Psychologie, sie betont den Nutzen für den Vergebenden selbst. Als heilendste Emotion überhaupt wird sie heute in Ratgebern angepriesen, und der Therapeut Colin Tipping predigt die „radikale Vergebung“ überhaupt als Rezept in allen Lebenslagen, weil das Schlimme, das man erfahren habe, einen ja innerlich wachsen lasse . . .

 

Vergebung lässt sich nicht verordnen

Solche Instantrezepte können für Opfer wie Hohn wirken. Vergebung lässt sich nicht verordnen, auch die Politik kann sie nicht erzwingen. Das zeigt sich am Beispiel Ruanda. Der Soziologe Benoît Guillou hat die langfristigen Folgen der Versöhnungspolitik von Regierung und Kirche untersucht, die versuchten, Vergebung zu institutionalisieren, etwa mit Formularen, die man die Häftlinge ausfüllen ließ. Aber die Befragten unterschieden klar zwischen dieser „Vergebung per Dekret“ und einer „Vergebung des Herzens“ – die von Ausnahmen abgesehen keiner zu geben bereit war. Vergebungspolitik kann auch ein Versuch sein, sich Gerechtigkeit zu ersparen.

Doch oft ist Vergebung schlicht eine Überlebensfrage: für Länder wie Südafrika, und für manche Menschen, wie Eric Lomax. „Die Liebe seines Lebens“ ist ein durchschnittlicher Film – aber wie Opfer und Täter, auch wenn sie einander nie sehen, aneinandergekettet bleiben und sich erst durch den verrückt scheinenden Akt des Vergebens und Vergebenwerdens voneinander und von ihrer Vergangenheit lösen können – das zeigt er beispielhaft. Mögen Japaner und Amerikaner auch ein wenig unterschiedliche Dinge darunter verstehen, was man versucht hat, mit den Begriffen Scham- und Schuldkultur zu beschreiben – so unterschiedlich sind sie auch wieder nicht. „Ich möchte jenen Tag nicht weiter durchleben“, sagt Nagase im Film. Und Lomax: „Ich auch nicht.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2015)

Leave a Reply