„Die derzeitige Krise in der Türkei ist auch eine Chance“

Vedat Bilgiç: Psychiater und Autor des Buches ’Der barmherzige Diktator’

Die Türkei macht gerade eine schwere Zeit durch. Repressalien gegen die Presse, Razzien gegen unliebsame Unternehmen, Entmachtung und politische Beeinflussung der Justiz, Diffamierung abweichender Meinungen als Terror und Verrat führen viele dazu, darin einen Wandel hin zu einer Diktatur zu erkennen.

Unter diesen Umständen erschien im Juni 2015 ein Büchlein mit dem Titel „Müşfik Diktatör“, zu Deutsch: „Der barmherzige Diktator“. Was meint der Autor damit? Wie sieht er die Situation in der Türkei? Warum nennt er keine Namen, liefert aber Beschreibungen, die im Kopf der Leser bestimmte Assoziationen des türkischen Alltags wecken?

DTJ hat über diese Fragen mit Dr. Vedat Bilgiç, Psychiater und Autor des Buches, gesprochen. Bilgiç ist 1973 in der Provinz Burdur in der westlichen Türkei geboren, hat an der Universität Erciyes Medizin studiert. Seit 2012 arbeitet er an der Fatih Universität in Istanbul als Psychiater und Hochschullehrer.

DTJ: Herr Bilgiç, Sie haben kürzlich ein Buch namens „Der barmherzige Diktator“ (Müşfik Diktatör) veröffentlicht. Wozu das Buch?

Bilgiç: Ich hatte von einem Online-Portal das Angebot bekommen, für sie zu schreiben. Ich bin jemand, der den Menschen und sein Verhalten zu verstehen versucht und jeden Tag etwas hinzulernt. Meine größten Lehrer sind meine Patienten. Die Menschen zu studieren liebe ich genauso sehr wie das Bücherlesen. Ich versuche, ausgehend vom Individuum die Gesellschaft zu verstehen und über die Gesellschaft die Individuen; die Ereignisse in der Gesellschaft, die Politik und das soziale Leben mit der Brille der Psychologie zu verstehen. Aus meinen Artikeln seit anderthalb Jahren ist dieses Buch hervorgegangen.

DTJ: Beim Lesen des Buches fühlt man sich an die Politik und bestimmte Akteure erinnert. Namen nennen sie aber nicht. Haben Sie das bewusst so gemacht? Würde möglicherweise die Nennung von Namen bestimmte Konsequenzen nach sich ziehen?

Bilgiç: Der Provokation im Namen des Buches bin ich mir bewusst. Die Art der Diktatur, von der ich im Buch rede, betrifft nicht nur die Diktatur in der Politik. Ich rede auch über die Diktatur in der Familie, im Arbeitsleben, in der Schule, im Innenleben des Menschen. Die Leser, die das Buch gelesen haben, sagen, sie hätten mehr über die Psychologie erfahren als über die Politik. Eigentlich kann man sagen: Das Buch versucht sich ausgehend von den Konflikten der Politik auf die psychologischen Konflikte im Innenleben des Individuums zu konzentrieren.

Natürlich ist es unmöglich, von der herrschenden politischen Atmosphäre unbeeinflusst zu bleiben. Dies führt dazu, dass sie sich bestimmten Themen zuwenden. Als jemand, der nicht viel für die Politik übrig hat, musste ich mich auf das Feld des Politischen begeben beim Versuch, den Menschen und die Gesellschaft zu verstehen. Was ich gemacht habe war, wie ein Schneider ein Kleidungsstück anzufertigen. Diejenigen, auf die es passt, können es sich anziehen. Mein Ziel ist es nicht, Politik zu machen. Mit diesem Buch greife ich keine bestimmte Person an.

DTJ: Mit Diktatur verbindet man in der Regel etwas Hartes, Gebieterisches. Was soll denn eine barmherzige Diktatur sein?

Bilgiç: Unsere Umgebung ist voll von barmherzigen Diktatoren. Jedes Ego möchte seine Herrschaft verwirklichen. Denjenigen gegenüber, die seine Herrschaft akzeptieren, sind sie barmherzig, anderen gegenüber hartherzig. Diktatur kommt von diktieren; meint befehlen. Dies ist etwas, das wir öfters beim Individuum, in der Familie und der Gesellschaft antreffen. Im politischen Leben meint es eine undemokratische Situation, in der ein Machthaber alles macht, was ihm gefällt.

In Lexika wird das so definiert: „Es wird der Eindruck erweckt, als ob der Machthaber für das Wohl der ganzen Gesellschaft eintritt statt seine eigenen Ziele zu verfolgen oder eine kleine Gruppe in der Gesellschaft zu bevorzugen. Ein barmherziger Diktator kann durch Volksentscheide einige demokratische Entscheidungsfindungen zulassen. Machthaber wie Napoleon oder Tito werden mit der Eigenschaft des barmherzigen Diktators belegt.“

DTJ: Aus der Sicht eines Psychiaters gesehen, welche Faktoren bringen einen Diktator hervor? Wie beschreiben Sie die Persönlichkeit eines Diktators?

Bilgiç: Nach Moghaddam, dem Autor des Buches ’Die Psychologie des Diktators’ ist es so: Die Diktatur kommt manchmal mit einem Putsch, manchmal kommt sie mit dem Versprechen der gesellschaftlichen Aussöhnung durch demokratische Wahlen und bemächtigt sich dann der Gesellschaft wie ein heimtückisches Krebsgeschwür. Wie es im Hadith heißt: Jede Gesellschaft hat die Regierung, die sie verdient. Die Sahne gibt die Qualität der Milch wieder. Die Struktur der Gesellschaften bestimmt die Regierungsform.

Auch die Geographie scheint ein wichtiger Faktor zu sein. Die Qualität der Demokratien östlicher Länder sehen wir vor unseren Augen. In der Familienstruktur östlicher Länder sind die Älteren wie der Vater oder der Opa Respektspersonen, denen man vertraut. Die Gesellschaft nimmt in ihrem Unbewusstsein den Machthaber auf der Spitze des Staates als Familienvater wahr, bringt die Bereitschaft, ihm zu vertrauen. Wird er mit seinen Fehlern konfrontiert, möchte er das nicht wahrhaben.

Es kommt leider noch ein Faktor hinzu: In diesen Gesellschaften ist die einzige Kraft, die alles bestimmt, die Macht. Wer die Macht hat, verfügt auch über das Recht und das Geld. Demokratie etabliert sich dort in Gesellschaften, wo die Macht Kraft schöpft aus Weisheit, Gerechtigkeit, Künsten, Wissenschaften. Sonst werden die Gesellschaften wie im Osten durch Diktaturen regiert, die den Anschein der Demokratie haben.

DTJ: Es gab psychologische Gutachten über verschiedene Machthaber. Was sagen solche Gutachten aus, kann man ihnen vertrauen? Wie sähe Ihr Gutachten aus?

Bilgiç: Es ist mit der Ethik der Medizin nicht zu vereinbaren, über jemanden aus der Ferne psychologische Bewertungen abzugeben. Ich finde es falsch. Die Aufgabe der Ärzte ist es nicht, aus der Ferne Diagnosen zu erstellen. Ärzte erstellen Diagnosen entweder im Rahmen juristischer Verfahren oder aufgrund des Wunsches der betreffenden Person. In letzter Zeit wird jede negative Erscheinung mit Krankheit erklärt.

Wenn das Fehlverhalten einer Person durch die Krankheit begründet ist, so ist diese Person als unschuldig zu betrachten. Das Böse und Schlechte mit der Krankheit zu verwechseln würde bedeuten, einerseits den Kranken zu beleidigen, andererseits das Böse zu verharmlosen. Wenn nach dieser Sichtweise alles Böse eine Krankheit ist, dann muss wohl die Hölle eine Art Krankenhaus sein.

Aus diesen Gründen würde ich über jemanden keine Diagnose erstellen, solange diese Person es nicht wünscht. Doch aus menschlicher Sicht haben wir alle das Recht, uns politische Überlegungen und Analysen zu erstellen.

DTJ: In der Türkei ist öfters die Rede von sogenannten Wahrnehmungsmanipulationen. Was ist darunter zu verstehen? Wie lange haben Wahrnehmungsmanipulationen Bestand, wann tritt die Wahrheit hervor?

Bilgiç: Wenn Wahrnehmungsoperationen nach Art von Machiavelli und Goebbels zu nachhaltigem Erfolg geführt hätten, dann hätte Hitler erfolgreich sein müssen. Sie nutzt für eine befristete Zeit, am Ende bricht sie zusammen. In den letzten 70-80 Jahren haben sie breite Verwendung gefunden. Wie wir aus dem Koran erfahren, gehört der Pharao mit seinen Zauberern zu den ersten Anwendern. Auch wenn Wahrnehmungsmanipulationen für eine Zeit lang nutzen, haben sie angesichts der Realität doch eine kurze Lebensdauer.

DTJ: In der Türkei sehen wir, dass um die 40 Prozent der Bevölkerung eine Regierung unterstützen, die mit Korruption und Unrechtsjustiz in Verbindung gebracht wird. Werden diese 40 Prozent verführt oder möchten sie sich verführen lassen, obwohl sie es besser wissen?

Bilgiç: In einer Atmosphäre, in der aus Motiven der Massenpsychologie und Gruppenzugehörigkeit die Parteilichkeiten wetteifern, kann man nicht unterscheiden, wer im Recht ist und wer im Unrecht. Ethnische und ideologische Zugehörigkeiten und die politischen Präferenzen, die daraus hervorgehen, bevorzugen, dass sie selber gewinnen und nicht die Wahrheit. Im normalen Ablauf der Politik ist das alles natürlich.

Auch Gesellschaften machen Krisen durch. Unsere Gesellschaft geht gerade durch eine politische, wirtschaftliche, moralische Krise. In der Vergangenheit war der konservative Teil der Gesellschaft Druck und Bedrängnis ausgesetzt. Jetzt hat dieser Teil der Gesellschaft die Macht in der Hand und zeigt sich damit einverstanden, dass Anderen Unrecht getan wird wie damals ihnen selbst. Genauso wie ein anderer Teil der Gesellschaft sich mit der Unterdrückung gegen die Konservativen einverstanden zeigte.

Im Ergebnis können wir sagen: Jetzt haben wir alle die Möglichkeit, Empathie zu zeigen. Niemand wird jetzt sagen können: „Die Macht ist auf meiner Seite. Wenn es von meiner Seite ausgeht, ist Unterdrückung etwas Gutes.“ Wir werden verstehen, dass Demokratie, die Freiheiten und die Gerechtigkeit für alle das Beste sind. Dies sind die Geburtswehen. Ich sehe die Zukunft der Türkei sehr positiv. Nach großen Krisen gibt es große Sprünge. Ich hoffe, wir überstehen diese Krise glimpflich. Der Westen hat diese Stadien schon hinter sich. Jetzt sind wir an der Reihe.

DTJ: Wie können sich Individuen gegen politische Manipulationsversuche wehren?

Bilgiç: Als Individuen müssen wir lesen, wie es auch im Koran an erster Stelle heißt. Er beginnt mit dem Gebot „Lies“. Eigentlich alles in dieser Welt ist wie ein Buchstabe, ihn zu lesen ist genauso wichtig wie das Lesen von Büchern. Lesen ist zugleich einladen, andere von der Erkenntnis in Kenntnis setzen. Wir müssen auch als Gesellschaft lernen, uns mit der Realität zu konfrontieren. Sich mit sich selbst zu konfrontieren geht auch über das Lesen des eigenen Ichs. Das Unbewusstsein der Menschen kennt die Wahrheit. Wir verdecken jedoch die Wahrheit und belügen uns selber. Wenn man aber leidet, wird man mit der Wahrheit konfrontiert. Ich hoffe, dass die Gesellschaft aufwacht, bevor sie noch weitere wirtschaftliche und politische Katastrophen zu erleiden hat.

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