Die Demenz, die gar keine ist – Tages

Als Beat H.* vor zwei Jahren beim Skifahren stürzte und nicht mehr allein auf­stehen konnte, war dies rückblickend vielleicht das erste Anzeichen. Nach und nach wurde sein Gang immer unsicherer. Auf einer abschüssigen Strasse vermochte H. seine Beine kaum zu bremsen. Ausserdem wurde er inkontinent. «Mein Hausarzt konnte mit diesen Symp­tomen nichts anfangen», sagt H.

Auch Urs W.* lief, selbst mithilfe eines Rollators, immer schlechter. Er stürzte häufig, «sogar im Sitzen bin ich umge­fallen», erinnert sich der 74-Jährige. ­Deshalb habe er schliesslich die meiste Zeit im Bett verbracht. Zudem wurde er ziemlich vergesslich. Jetzt geht es W. wieder gut: Er war im Sommer im Bündnerland wandern, hütet seine Enkel und kann sich wieder an alles erinnern. Zu verdanken hat er das dem dritten Arzt, den er konsultierte und der seine Erkrankung – nach zwei Jahren Leidenszeit – schliesslich erkannte. Der Hausarzt von W. und ein Neurologe hatten die Diagnose zuvor verpasst.

Die beiden Senioren sind keine Einzelfälle, vermutet Lennart Stieglitz, Neurochirurg am Zürcher Universitätsspital. Allein im Kanton Zürich könnten laut Stieglitz mehrere Hundert, womöglich sogar über tausend Senioren an dieser Form der Demenz leiden, die sich hätte verhindern lassen können – wenn nur rechtzeitig die richtige Diagnose gestellt worden wäre. Hochgerechnet auf die Schweiz, könnten es sogar mehr als 20'000 über 65-Jährige sein.

«Wenn ein Senior schlechter läuft, ­inkontinent wird oder dement, glauben viele, das sei im Alter normal. Aber das stimmt nicht», sagt Stieglitz. Rasch, manchmal zu rasch, würde dann zum Beispiel der Verdacht auf Alzheimer oder Parkinson geäussert. «Aber wir ­sehen nicht selten Patienten, bei denen dies nicht zutrifft.» Dahinter stecke in manchen Fällen nämlich ein nicht erkannter Normaldruck-Hydrocephalus. «Und der wäre meist gut behandelbar.»

Bei dieser Erkrankung, an der auch H. und W. leiden, vergrössern sich die Räume innerhalb des Gehirns, in denen das Hirnwasser fliesst. Dies zeigt sich auf CT- und MRI-Bildern. Möglicherweise kommt es auch zu lokalen Durch­blutungsstörungen im Gehirn.

Nach der Erfahrung von Stieglitz ­ziehen Hausärzte die Diagnose Normaldruck-Hydrocephalus zu selten in Betracht. Eine kleine Umfrage unter zwölf zufällig ausgewählten Hausärzten scheint das zu bestätigen: Drei kennen die Krankheit, die anderen neun liegen teilweise oder ganz daneben – kein Wunder, denn diese Demenz ist selten: Die Zahlen variieren aber stark, von weniger als einem Betroffenen pro 100'000 bis zu sechs pro 100 – je älter, desto mehr.

«Am deutlichsten sind meist die Gangstörung und das Nachlassen der geistigen Fähigkeiten», sagt die Verhaltensneurologin Karen Wachter, Leiterin des Schweizerischen Zentrums für ­Verhaltensneurologie am Kantonsspital Aarau. Beides kann jedoch auch bei ­anderen Krankheiten vorkommen, die weit häufiger sind, etwa bei einer ­Demenz aufgrund von Gefässschäden oder bei Parkinson.

Ein breitbeiniger Gang

«Können Sie einem vorbeifliegenden Vogel nachschauen, ohne beim Gehen unsicher zu werden?», fragt Stieglitz etwa die Patienten. Solche mit Normaldruck-Hydrocephalus haben damit oft Mühe. Ein breitbeiniger Gang, bei dem die Füsse wie von einem Magneten ange­zogen am Boden «kleben», sei typisch. Ebenso die Probleme bei einer Wendung um 180 Grad: Betroffene benötigen dafür meist mindestens vier Schritte. Von den geistigen Fähigkeiten würden oft Aufmerksamkeit, Konzentration und Schnelligkeit auffällig nachlassen.

Entscheidend für die Diagnose aber ist ein Test: Dabei lassen die Ärzte ­probehalber etwas Hirnwasser aus dem Rückenmarkskanal ab. Bessern sich die Symptome daraufhin, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Patient an einem Normaldruck-Hydrocephalus leidet und von einem Eingriff profitieren könnte. «Danach war es schlagartig besser», erinnert sich Beat H.

«Aber auch dieser Ablassversuch liefert keine hundertprozentige Gewissheit», sagt Luigi Mariani, Chefarzt der Klinik für Neurochirurgie am Basler Universitätsspital. «Es gibt Patienten, die darauf positiv ansprechen und denen die Behandlung trotzdem nichts bringt. Und es gibt andere, bei denen der Ablassversuch erfolglos ist, die aber dennoch von dem Eingriff profitieren.»

Die Behandlung besteht in einem circa 45-minütigen Eingriff. Der Neurochirurg legt einen dünnen Schlauch von den Hirnkammern in den Bauchraum. Über ein Ventil kann er diesen Shunt durch die Haut programmieren. Es soll möglichst genauso viel Hirnwasser abfliessen, wie zur Besserung nötig ist. «Rund 75 Prozent der Patienten mit Normaldruck-Hydrocephalus sprechen sehr gut darauf an», sagt Stieglitz. Das Ergebnis sei meist umso besser, je weniger Begleiterkrankungen ein Patient habe.

In der Fachliteratur finden sich ­allerdings auch Berichte von deutlich schlechteren Resultaten. Mehrere von Tagesanzeiger.ch/Newsnet angefragte Geriater bezweifeln sowohl den Nutzen eines Shunts als auch die Häufigkeit der Erkrankung. «Die Schwierigkeit ist, dass Gang- und Gedächtnisstörungen oft nicht nur eine ­Ursache haben. Deshalb muss man sorgfältig abklären, wer wirklich von einer Shuntoperation profitiert. Dazu braucht es auch eine enge Zusammenarbeit ­unter den Spezialisten», wendet der Geriater Sacha Beck ein, Leitender Arzt der Universitären Klinik für Akutgeriatrie am Stadtspital Waid in Zürich.

Umstrittene Behandlung

Wer hat nun recht? «Diese Diskussion führen wir momentan», sagt Mariani. «Eine Partei glaubt, man könnte vielen Patienten helfen, wenn man ihren Normaldruck-Hydrocephalus nur früh genug erkennen würde. Die Gegenpartei ist überzeugt, dass die mit einem gewissen Risiko verbundene Behandlung meist nicht so viel bringt.» Tatsächlich muss jeder vierte Shunt innerhalb von fünf Jahren überholt werden. Zu den Komplikationen zählen Abflussbehinderungen, selten kommt es auch zu Infektionen oder Hirnblutungen.

«Geriater sehen die Patienten meist in einem späten Stadium», relativiert ­Karen Wachter. «Frühzeitig behandelt, bessern sich die Symptome bei drei ­Vierteln der Patienten mit Normaldruck-Hydrocephalus. Ist die Erkrankung schon fortgeschritten, profitieren sie deutlich weniger.»

Um herauszufinden, wer recht hat, brauchte es eine Studie, bei der die Patienten entweder behandelt oder nur ­beobachtet würden, sagt Mariani. Doch dazu müsste man die Betroffenen erst einmal ausfindig machen. Das will Stieglitz nun tun: Zusammen mit Kollegen hat er zwei einfache Fragebogen für Pflegekräfte und Hausärzte entwickelt, die bei der Diagnose helfen sollen. Der Neurochirurg will ihren Nutzen demnächst testen. Bewähren sie sich, werden Patienten mit Normaldruck-Hydrocephalus künftig wohl schneller erkannt.

*Namen geändert

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 11.01.2016, 20:19 Uhr)

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