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Der schwierige Gang zum Sozialamt

Von Christoph Hämmann.
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Seit einem Burn-out und einem Herzinfarkt ist Mario Rossi-Munter nur noch eingeschränkt arbeitsfähig. Obwohl die Geldnot immer grösser wurde, sträubte er sich monatelang gegen den Gang zur Sozialhilfe.

«Mein schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen»: Mario Rossi-Munter.

«Mein schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen»: Mario Rossi-Munter.
Bild: Andreas Blatter

Die Studie

Betroffenen fällt es schwer, sich beim Sozialdienst zu melden. Dort erwarten sie nicht in erster Linie Geld, sondern Unterstützung bei der Lösung ihrer Probleme.Bis heute wusste nur das engste Umfeld von Mario Rossi-Munter, dass dieser während knapp dreier Jahre von der Sozialhilfe unterstützt worden war. «Ich hatte Angst, ausgelacht oder runtergemacht zu werden», sagt er. Trotzdem gab er schon einmal Auskunft darüber, wie es sich anfühlt, den Gang zum Sozialdienst anzutreten. Nachdem er sich im Herbst 2008 an den Sozialdienst seiner Gemeinde gewandt hatte, wurde er vom Fachbereich Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule kontaktiert und ausführlich interviewt.

Die Forscher der BFH erfassten insgesamt 1328 Fälle und analysierten die Aufnahmeverfahren von fünf Deutschschweizer Sozialdiensten. Ihre Ergebnisse zeigen, dass Mario Rossi-Munters Bedenken verbreitet sind. Gemäss Studie sind bei mehr als der Hälfte der Befragten solche Schamgefühle und Stigmatisierungsängste ausgeprägt vorhanden. Drei Viertel der Befragten bekundeten Mühe, sich beim Sozialdienst zu melden. Sie möchten nicht vom Staat abhängig werden und halten den Sozialhilfebezug vor ihrem persönlichen Umfeld geheim.

Die Arbeit an der Studie, die unter dem Titel «Der schwere Gang zum Sozialdienst» als Buch publiziert wird, fiel in die Zeit, in der das Thema Sozialhilfemissbrauch in der öffentlichen Debatte omnipräsent war. Dies hinterliess Spuren, schreiben die Forscher. Eine Mehrheit der Interviewten – selber Sozialhilfebezüger – war der Meinung, dass Sozialhilfe oftmals unrechtmässig bezogen werde.

Gemäss der Studie trifft das weit verbreitete Bild von Sozialhilfebezügern als «Sozialschmarotzer» jedoch nicht zu: Menschen in finanzieller Not seien nicht zuallererst an Geld interessiert, sondern an Unterstützung bei der Lösung ihrer Probleme. Ist sich jemand seiner finanziellen Notlage bewusst geworden, verstreichen durchschnittlich hundert Tage, bis sich die Person an den Sozialdienst wendet. Dies sei «bedenklich», schreiben die Forscher, da sich während dieser Zeit die – oft auch gesundheitlichen – Probleme vergrössern können. Dies erhöhe den Aufwand für die Betreuung und Beratung durch den Sozialdienst. (hae)

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Wie es dazu kam, dass er sich 2008 an die Sozialhilfe wandte, kann Mario Rossi-Munter nicht in ein paar wenigen Sätzen erklären. Etwas aber will er gleich klarstellen: «Ich bin niemals arbeitslos gewesen», sagt er, «das ist mir ganz wichtig.» Und weil es guttut, darzulegen, dass alles viel schlimmer hätte sein können, fügt er an: «Ich bin nie betrieben worden, erhielt nie einen Zahlungsbefehl.»

Es gibt kein Schlüsselereignis im Leben des 61-Jährigen, das sich benennen liesse, und bei Entwicklungen, deren Ursprung zehn oder mehr Jahre zurückliegt, kann er sich oft nicht mehr genau erinnern. Mehrmals zögert er, was in die Zeitung gehört und was lieber nicht, entscheidet unvermittelt, dass Wohnort und Arbeitgeber ungenannt bleiben sollen. Fast scheint er in diesen Momenten Angst zu haben vor dem eigenen Mut, seine Geschichte zu erzählen.

«Gestresst und schlapp»

Viel Geld hatte der gelernte Coiffeur nie gehabt in seinem Leben. Nach der Lehre arbeitete Mario Rossi-Munter lange in der Pflege. Später machte er sich selbstständig, «im Gesundheitswesen», genauer will er sich nicht äussern. Reich habe ihn das nicht gemacht, erzählt er, «aber ich bin immer durchgekommen». Bis er übermütig geworden sei und neben dem Geschäft in Bern ein zweites in Biel eröffnet habe. Mit dem ständigen Hin und Her habe er sich «übertan», sagt Mario Rossi-Munter. «Es hat mich verrissen.»

Nach zehn Jahren Selbstständigkeit verkaufte er seine beiden Geschäfte. Als alle Rechnungen bezahlt waren, sei es gerade so aufgegangen. Er zog mit seinem Lebenspartner in eine Berner Gemeinde, wo die inzwischen Verheirateten noch heute leben. Mario Rossi-Munter bewarb sich als Aushilfskassier im Stundenlohn. Seit zehn Jahren macht er diese Arbeit nun, meistens 20 Stunden pro Woche, manchmal weniger. Daneben ist er Hauswart im Mehrfamilienhaus, in dem er mit seinem Mann wohnt.

«Das reduzierte Pensum hat für mich für den Moment gestimmt», sagt Mario Rossi-Munter mit Blick auf 2002. Er sei nach Aufgabe seines Geschäfts angeschlagen gewesen. «Ich fühlte mich gestresst, hatte keine Ideen mehr, war schlapp.» Als Ausgleich habe er viel gemalt und gezeichnet, seine grosse Leidenschaft.

Nach vier Stunden kaputt

Im Hause Rossi-Munter wurden zwei Löhne zusammengelegt: Zu dem auf tiefem Niveau schwankenden Lohn von Mario Rossi-Munter kam das Einkommen des Partners, auch er als Koch kein Grossverdiener. «Damals begann es, finanziell richtig eng zu werden.» Wie oft die beiden jeden Franken auch drehten, ihr Verdienst reichte kaum mehr für zwei. Zur finanziellen Not gesellten sich bei Mario Rossi-Munter Schuldgefühle: «Es belastete mich, dass mich mein Partner durchschleppen musste.»

2006 erlitt er einen Herzinfarkt. «Das hat mich noch einmal richtig zurückgeschmettert.» Seither nimmt er Medikamente, wegen des Herzes und wegen der psychischen Probleme, die nach dem Infarkt auftraten. Jeden Tag schlucke er zehn Tabletten. Das verhindere, dass er sein Arbeitspensum erhöhen könnte. «Nach vier Stunden bin ich kaputt.»

Bevor er im Herbst 2008 endlich zum Sozialdienst gegangen sei, habe er monatelang mit sich gerungen, erzählt Mario Rossi-Munter. Erfolglos hatten ihn Freunde darin bestärkt, ihm gesagt, er habe ein Recht auf Unterstützung. «Aber ich schämte mich und wäre mir als Schmarotzer vorgekommen.»

«Ich kam mir minderwertig vor»

Schliesslich überwand er sich doch. Trat ihn an, den schweren Gang zum Sozialdienst. Beim Schalter angekommen, konnte er zunächst gar nicht sagen, weshalb er hier sei – statt sich zu erklären, weinte er. «Ich bin mir so minderwertig vorgekommen.» Wieso er nicht viel früher gekommen sei, habe ihn die Sozialarbeiterin später gefragt.

Während knapp dreier Jahre wurde Mario Rossi-Munter von der Sozialhilfe unterstützt. Die Beiträge hingen davon ab, wie viel er in einem Monat verdiente. Er habe maximal 600 bis 700 Franken pro Monat erhalten. «Es gab auch einige Monate hintereinander, in denen ich gar nichts erhielt, weil der Grundbedarf gerade so aufging.» Das Geld werde einem nicht nachgeworfen, sagt Mario Rossi-Munter, der sich nicht mehr schämen mag. In einem fast schon kecken Moment sagt er: «Mein schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen.»

Probleme haben gekittet

Das mag damit zusammenhängen, dass er seit Juli 2011 keine Sozialhilfe mehr bezieht. Nach der Heirat habe der Sozialdienst die Einkommen der beiden Eheleute zusammen betrachtet. «Wir liegen ein paar Franken über dem Existenzminimum», sagt Mario Rossi-Munter. Der Anspruch auf Unterstützung erlosch.

Geblieben ist, dass sich die beiden kaum mal etwas Besonderes leisten können. Die letzten Ferien weg von daheim? «Uh», sagt er, «vielleicht vor zehn Jahren.» Um gleich anzufügen: «Nein, nicht einmal. Eher vor fünfzehn Jahren, vielleicht achtzehn.» Er sei sich aber bewusst, dass andere Menschen «enger durchmüssen», sagt er. «Wir nagen nicht am Hungertuch.»

Obwohl sein Gatte sage, dass er das nicht erwarte, fände es Mario Rossi-Munter «schön, wenn man etwas bieten könnte». Angesichts der fünfzehn gemeinsamen Jahre glaubt er aber auch, dass die finanziellen Probleme sie nur noch mehr zusammengekittet hätten. Es ist die Romantik des Lebens am Existenzminimum: «Er ist jedenfalls nicht wegen des Geldes mit mir zusammen», sagt Mario Rossi-Munter und strahlt. (Berner Zeitung)

Erstellt: 01.10.2012, 11:56 Uhr


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