Der-Nacken-beginnt-am-Fuss – Tages

Der Operationstermin stand schon fest. Bernd B. hatte über Jahre Fussball gespielt, war ehrgeizig, war immer an seine Grenzen gegangen – bis sein Knie zerschlissen war. Der Aussenmeniskus war so stark abgenutzt, dass Knochen auf Knochen rieb. Damit er noch gehen konnte, nahm er Schmerzmittel und liess sich Hyaluron spritzen, um das Gelenk zu schmieren. Sein Arzt meldete ihn für eine Knieumstellung an: Dabei wird das Schienbein durchgesägt und neu ausgerichtet. Dann aber, drei Monate vor dem Termin, erzählte er einem Kumpel davon. «Geh zur Yogatherapie», riet ihm dieser. Bernd B. ging. Und sagte nach zwei Monaten die Operation ab.

Die Universität Essen hat 312 Studien zur Wirkung von Yoga ausgewertet und ist zum Schluss gekommen: Yoga kann heilen – aber nicht alles. Wirksam ist es gegen Rückenschmerzen, wahrscheinlich auch gegen Diabetes und Depressionen. Nur: Patienten mit gravierenden Beschwerden sind nicht in der Lage, normalen Yogastunden zu folgen. Sie sind auf Therapiestunden angewiesen, in denen etwa wie im Iyengar-Yoga ein Therapeut wenige Patienten intensiv behandelt.

Bernd B. liegt im Iyengar-Yogainstitut in Bad Neuenahr zusammengebunden auf dem Boden. Die Beine sind mit ­einem halben Dutzend Stoffgurten, mit Holzplanken und Klötzen fixiert. Mit den Füssen stösst er gegen die Wand, mit den Händen gegen Gewichte. Andere Patienten «sitzen» mit Schaumstoffplatten fixiert im Türrahmen oder stehen mit schweren Gewichten behangen zur Wand und strecken sich an ­Seilen hoch. Meist ist es still. Ab und an aber stöhnt jemand leise auf.

Die Position 15 Minuten halten

Es sieht nicht aus wie Yoga, was sie hier machen. Trotzdem ist es Yoga, sagt Rita Keller. Sie leitet die Iyengar-Yogainstitute in Köln und Bad Neuenahr, bildet weltweit Yogalehrer aus, ist Autorin und ­arbeitet seit Jahrzehnten mit der Iyengar-Familie zusammen. «Ein Gesunder sucht eine Position auf, einem Kranken wird sie angetragen», erklärt sie den Unterschied zwischen Yoga und Yogatherapie. Angetragen heisst, sie wird so an den Körper eines Patienten angepasst, dass er sie einnehmen kann. Es wird für ihn massgeschneidert. Dabei arbeiten die Therapeuten nicht mit Hightechgeräten, sondern mit einfachsten Hilfsmitteln: mit Stühlen, Polstern, Decken, Klötzen, Gurten, dünnen, dicken und halbdicken Platten.

Wenn ein Therapeut einen Patienten aufwendig in eine Position – in der Yoga-sprache Asana genannt – gebettet hat, ihn von allen Seiten begutachtet, die Ausrichtung der Knochen, der Muskeln, der Haut, dann ist oft zu hören: «Noch einen Millimeter höher.» Oder: «Einen Milli­meter nach rechts.» Oft sind die Körper durch falschen Gebrauch abgenutzt und verzogen, Wirbelsäulen verbogen, verdreht oder verknöchert. Wenn dann wie bei BerndB. noch Knochen auf Knochen reibt, weichen viele dem Schmerz aus und belasten das Knie, vielleicht den ganzen Körper, zusätzlich falsch.

Hier setzt die Yogatherapie an. BerndB. bekam erst Asanas, die Raum im Gelenk schaffen, dann wurde das Knie so ausgerichtet, dass sich die Belastung verteilt und das Knie wieder richtig funktionieren kann – auch wenn der Meniskus nicht mehr ganz erhalten ist. Nach yogischer Sicht werden in den Zellen alte Samskaras – Prägungen, die das Leben hinterliess – durch Neue ersetzt, werden sozusagen umprogrammiert. Es wirkt aber nur, wenn Patienten millimetergenau ausgerichtet sind und 15 bis 20 Minuten in einer Position bleiben – mindestens einmal pro Woche und so lange, bis sie selber ein Asana «aufsuchen» können.

Bleiben die Patienten so lange in einer Position, geht die Wirkung tief – nicht nur auf den Körper, sondern auch auf Geist und Seele. Das sind die «Nebenwirkungen» dieser Therapie. Nach der Yoga­philosophie besteht der Körper aus fünf Schichten, die vom Grobstofflichen, dem Körper, zum Feinstofflichen, der Seele, übergehen. Sie beeinflussen sich gegenseitig, die Körperschicht wirkt auf die Seelenschicht und umgekehrt. «Gefühle wie Angst oder Trauer schlagen sich in der Haltung nieder», sagt Rita Keller. Sie erzählt von einer Patientin, die wegen der Hüfte in die Therapie kam. Bald merkte sie, dass das Problem noch woanders liegt: Die Frau war depressiv. Keller packte etwas in die Position ein, das aufhellend wirken sollte, etwa eine gezielt platzierte gerollte Bandage. «Man muss aufpassen, dass man nichts übersieht.» Mit jeder Position verabreiche man eine Art Cocktail, der auf Hormon- und Nervensystem wirke. Hätte die Patientin lange in Vorwärtsbeugen bleiben müssen – etwa mit gestreckten Beinen sitzend das Kinn Richtung Knie bringen – hätten sich die Depressionen verstärken können.

Schmerzfrei statt Rollstuhl

Rita Keller selber verdankt es dem Yoga, dass sie heute nicht auf den Rollstuhl ­angewiesen ist. Sie hatte mit 30 Jahren einen schweren Sportunfall, ihr Bein war lahm. Die Ärzte prophezeiten ihr, dass sie im Rollstuhl sitzen werde. Später warf sie ein zweiter Unfall zurück. Sie hatte damals schon über Jahre mit dem Yogameister B. K. S. Iyengar in dessen Therapiestunden zusammenge­arbeitet und besuchte ihn erneut in ­Indien. Iyengar behandelte sie «scharf», wie sie sagt. Als später Schüler in ihren Yogastunden Probleme mit den Knien hatten, fragten sie, was sie denn dagegen getan habe. Sie fragten auch, wenn sie Probleme mit Nacken, Hüfte oder Schulter hatten. Bis die Yogastunde zur Therapiestunde wurde.

Rita Kellers Patienten lassen sich das Knie, den Rücken oder die Schulter behandeln. Oder alles miteinander wie etwa der Fussballer, den es überall schmerzte. Die Patientin Marie-Louise Knobloch hatte Probleme mit der Halswirbelsäule, eine Operation vor 20 Jahren war misslungen. Sie konnte ohne Schmerzen nichts länger als 10 Minuten tun, weder laufen, sitzen noch liegen. Sie liess sich in Spezialkliniken behandeln, machte Fangopackungen und Krankengymnastik, nichts half. Als sie mit der Therapie begann, war sie «steif wie eine Wand». Der ständige Schmerz hatte ihren Körper verkrampft und verhärtet. Bereits nach zwei Monaten Yogatherapie merkte sie, dass die Schmerzen nachliessen. Heute braucht sie keine Schmerzmittel mehr und kann sogar wieder Tennis spielen.

Yogatherapeut Bernhard Schmitz ­arbeitet auch als Physiotherapeut und Heilpraktiker. Kommt ein Patient zu ihm, «öffnet er seinen ganzen Heilkasten», wie er sagt. Je länger, je mehr greift er auf Yoga zurück. «Ich kenne nichts Besseres», sagt Schmitz. Bei Gelenkproblemen etwa mobilisiert er erst die Gelenke von Hand, dann geht er zum Yoga über. So wird der Patient mit der Zeit selbstständig und kann alleine üben.

Seit Schmitz auch Yogatherapeut ist, schaut er seine Patienten anders an. Kam früher jemand mit Nackenschmerzen, untersuchte er den Nacken, heute die Füsse. Wie steht jemand? Wie ist das Gewicht verteilt? Welchen Einfluss hat dies auf den Körper? Die Yogatherapie ist ­jedoch aufwendig. Dauert eine Physiotherapiesitzung etwa 20 Minuten, plant er für die Yogatherapie eine Stunde ein. Kam er mit Yoga einmal nicht mehr weiter? «Nur wenn Menschen körperliche Berührungen wichtig sind und sie massiert werden wollen», sagt er. Oder wenn sich jemand von einer Operation schnelle ­Resultate erhofft. (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 04.08.2015, 17:11 Uhr)

Showman und Botschafter der fliessenden Bewegungen

Der2014 verstorbene Yogameister B. K. S. Iyengar machte Yoga allen zugänglich – auch Alten und Kranken.

Der Junge war bereits krank zur Welt gekommen. Er war ein dünnes Kind mit dickem Bauch und schwerem Kopf, als er 1918 in der indischen Stadt Bellur geboren wurde. Später erkrankte er an Tuberkulose, Typhus und Malaria. B. K. S Iyengar war das elfte von 13 Kindern, der Vater, ein Dorfschullehrer, war früh gestorben, die Familie verarmt. Seine Geschwister wollten sein Schulgeld nicht mehr bezahlen; sie glaubten nicht, dass ihr Bruder noch lange lebt. Er starb letztes Jahr in Pune, Indien, und wurde 95 Jahre alt.

Wie hat er überlebt? Iyengar war überzeugt, dass ihn Yoga geheilt hatte. 1934, er war noch keine 16Jahre alt, schickten ihn seine Geschwister zu einer Schwester, die in Mysore mit einem Yoga­meister verheiratet war: Sri T. ­Krishnamacharya, der als Urvater des modernen Yogas gilt. Als Iyengar bei ihm ankam, litt er an Rückenschmerzen und war so steif, dass er mit gestreckten Beinen nicht einmal seine Knie berühren konnte. Sein Schwager hielt ihn denn auch für völlig untalentiert.

Der Körper als Labor

Krishnamacharya ging nicht zimperlich um mit seinem Neffen: Weckte ihn um 4 Uhr morgens und liess ihn den Garten giessen, schickte ihn durch eine harte Yogaschule, drückte ihn bei einer Vorführung so brutal in den Spagat, dass dieser noch Jahre an einer Zerrung litt. Aber Iyengar kam zu Kräften, die Steifheit wich. Ein Video von 1938 – vier Jahre nach seiner Ankunft in Mysore – zeigt einen athletisch gebauten Mann, der mit ausgestreckten Beinen auf einem Teppich unter Indiens Sonne sitzt. Er legt sich betont gleichgültig ein Bein hinter den Kopf, wohl wissend, was seine Demonstration beim Zuschauer auslöst. So beugt er sich vornüber, bis die Stirn das Schienbein berührt, legt sich dann auf den Rücken. Er richtet sich auf, setzt die Hände auf den Boden, schaukelt in der Luft. Er fliesst von einer Stellung in die andere, geschmeidig, kraftvoll, bis in die Haarspitzen kontrolliert.

Vielleicht war B. K. S. Iyengar der Mensch, der am meisten Yoga übte. Bis zu 10Stunden pro Tag, 80Jahre lang; für die sechs Kinder sorgte seine Frau. Sein Körper, sagte Iyengar, sei sein Labor, jede Stellung demnach ein Experiment. Er wollte herausfinden, wie sie funktioniert, ihr Wesen verstehen. Während der ­Tausenden von Stunden auf der Matte forschte er: Was geschieht, wenn er in einer Stehhaltung etwas mehr Gewicht von der Innen- auf die Aussenferse bringt? Er beobachtete, wertete aus, analysierte. So entwickelte er die Stellungen des klassischen Hatha-Yogas weiter, verfeinerte und perfektionierte sie, bis sein Stil – unbeabsichtigt, wie er sagte – zur Methode wurde. Eine Methode, die dem Körper bekommt und die so präzise ist, dass heute Wissenschaftler bei Studien oft auf sie zurückgreifen. Iyengars Buch «Licht auf Yoga» wurde zum Standardwerk.

Als Iyengar mit 18Jahren zu unterrichten begann, lehrten in ganz Indien noch etwa 20 Yogalehrer; die britischen Eroberer hatten Yoga verboten. Iyengar aber arbeitete dagegen. Er wollte Yoga ­allen zugänglich machen, den Alten, Kranken und Steifen, den Frauen, der ganzen Welt. «Yoga ist für uns alle», sagte er. Er reüssierte – 2004 kürte ihn das ­«Time»-Magazin zu einer der 100einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt.

Dass er Yoga in der Welt bekannt machen konnte, dabei half ihm die Freundschaft zum Geiger Yehudi Menuhin. Iyengar wurde 1952 dessen Lehrer. Er begleitete ihn auch auf Tourneen und führte daneben Yogashows auf, Menuhin hielt jeweils eine kleine Einführungsrede. 15 000 Shows hatte der Inder gegeben, wie er 2007 dem «Spiegel» stolz sagte. Er war ein Showman und ­genoss die Aufmerksamkeit. Iyengar machte Yoga auch den Frauen zugänglich, in dem er 1936 als Erster begann, sie in öffentlichen Kursen zu unterrichten. Das war damals in Indien verpönt.

Und Iyengar, der Geheilte, machte Yoga den Kranken zugänglich. Damit auch sie die Positionen einnehmen konnten, entwickelte er Hilfsmittel. Es brauchte aber auch das feine Sensorium für den Körper, das er während der vielen Stunden auf der Matte entwickelte, die eigenen Verletzungen, um zu wissen, was einem kaputten Rücken gut tut. Und es brauchte wohl auch seine Erfahrung als Kranker, die Demütigung, stets auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Er habe sich als Kind als Parasit gefühlt, sagte er in Interviews.

Hart zu den Krankheiten

Iyengar behandelte Menschen mit verknöcherten Wirbelsäulen, Lähmungen oder mit so starken O-Beinen, dass sie nicht darauf stehen konnten. Auch er war nicht zimperlich. Patienten erzählen, er habe sie «scharf» behandelt, sie mit Füssen bearbeitet, sie gezogen und gegen die Wand gedrückt. «Ich bin hart zu den Krankheiten, weil sie manchmal nicht hören wollen», sagte er. Er wusste, was er tat. Seine Erfolge sprachen sich so weit herum, dass aus der ganzen Welt Patienten nach Pune kamen.

Iyengar selber wurde alt, aber sein Körper blieb lange jung und gesund. In einem Film beugt er sich aus dem Stand zurück in die Brücke, schnellt wieder hoch, beugt sich zurück. Der Film ist ­undatiert, aber Iyengar hat darin schon lange, schlohweisse Haare.
Janine Hosp
(Tages-Anzeiger)

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