Der Kampf des Dax um die magische Marke 10.000 – FAZ

Mehr als zwei Dutzend Mal hat der Dax allein in den vergangenen zwei Tagen die Marke von 10.000 Punkten über- oder unterschritten: Deutschlands Aktienindex scheint im Augenblick geradezu zum Pendeln um diesen Wert verdammt zu sein. Mal nimmt er ihn und lässt Hoffnung aufkeimen, dass die Aktienrally zurück ist. Dann wieder fällt er darunter und erinnert alle Anleger an die schmerzlichen Kursverluste der Vorwoche. „Magische Marke“ oder „psychologisch wichtigen Wert“ haben die Börsenberichterstatter solche runden Punktstände des Index getauft: Mit ihnen ist jedes Mal einige Aufregung verbunden – und die Börse bekommt dann besondere Aufmerksamkeit.

Christian Siedenbiedel



Folgen:




Zu Recht? Sind die runden Zahlen beim Dax wirklich so etwas wie „Schwellen“, deren Überschreitung für das Kursbarometer gar nicht so einfach ist und daher eine symbolische Bedeutung hat? Rein von der menschlichen Wahrnehmung her scheint es tatsächlich Unterschiede zu geben zwischen runden Zahlen wie 10.000 und krummen Zahlen wie 9999. „Menschen sind aufgrund ihrer beschränkten kognitiven Ressourcen immer gezwungen, die Komplexität ihrer Umwelt durch Heuristiken zu vereinfachen“, sagt Rüdiger von Nitzsch, Professor für Finanzpsychologie in Aachen. Zugleich wisse man, dass Menschen Zahlen relativ zu Bezugspunkten wahrnehmen – nicht absolut. Runde Dax-Stände könnten als solche Bezugspunkte verstanden werden. „Insofern ist diese Verbindung aus Einfachheit und Relativität die Begründung für die Bedeutung dieser psychologischen Marken“, meint Nitzsch.

Finanzprofessor bezweifelt psychologischen Effekt

Aber richten sich die Märkte wirklich danach? Die Börsenprofis und Banker sind da äußerst skeptisch. „Ich glaube nicht, dass runde Zahlen beim Dax wie die 10.000 irgendeine Bedeutung haben“, sagt Ulrich Stephan, der Chef-Anlagestratege der Deutschen Bank für Privat- und Firmenkunden. Über solche angeblich psychologisch wichtigen Marken könne man vielleicht nett plaudern – relevant seien sie nicht: „Die Profis am Aktienmarkt richten sich nicht danach.“

Mehr zum Thema

  •  Dax schließt im Plus
  •  Nur scheinbare Beruhigung an den Börsen Chinas
  •  Die Lufthansa darf im Dax bleiben
  •  Dax-Neuling: Willkommen, Deutsche Annington!

Der Mannheimer Finanzprofessor Martin Weber nennt ein starkes Argument, warum Schwellen wie Dax 10.000 für Investoren aus seiner Sicht nicht funktionieren können: Anleger kauften in der Regel einzelne Aktien – der Dax wird dann nur nach einer Formel aus den Kursbewegungen berechnet. Der einzelne Anleger wisse vermutlich nicht einmal, wie sich sein Aktienkauf auf die Entwicklung des Dax auswirke – geschweige denn, dass er das intuitiv nachvollziehe und es einen psychologischen Effekt geben könne.

Dagegen ließe sich vielleicht anführen, dass es zunehmend mehr private und institutionelle Investoren gibt, die in Aktienfonds oder börsengehandelte Indexfonds auf den Dax investieren – die also ihre Anlageentscheidung vom Index selbst abhängig machen. Außerdem wäre es zumindest denkbar, dass im Computerhandel bestimmte Dax-Werte als Schwellenwerte im Algorithmus eingegeben sind, von denen an dann gekauft oder verkauft wird.

Viel wichtiger sind zwei andere Marken

Die Börsianer sagen aber, für solche Schwellenwerte seien gerade die runden Zahlen ausgesprochen ungeeignet. Ähnlich wie Lottospieler nie Zahlen verwenden sollten, die Geburtsdaten darstellen können, weil die von anderen zu häufig getippt werden. „Wenn jemand Orders setzt, dann meidet er runde Zahlen eher, da es viele Marktteilnehmer gibt, die genau darauf spekulieren und ihre Orders ein wenig höher oder tiefer setzen“, sagt Deutsche-Bank-Stratege Stephan.

© F.A.Z.


Infografik / Der Dax und seine psychologischen Marken

© F.A.Z.


Selbst solche Aktienexperten in den Banken, die auf die sogenannte technische Analyse setzen, also die Vorhersage künftiger Aktienkurs-Entwicklungen anhand der Kurven der vergangenen Entwicklungen, messen den angeblich psychologisch wichtigen Marken keine große Bedeutung bei. Christian Schmidt, Fachmann für die technische Analyse von Aktien bei der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba), meint sogar, es gebe im Moment gleich zwei Marken für den Dax, die deutlich wichtiger seien als die 10.000. Er sieht bei 10.102 Punkten einen „beachtenswerten Widerstand“, den der Dax anscheinend nicht so ganz einfach überwinden könnte – und bei 9954 Punkten eine „Unterstützung“, unter die der Dax nicht so leicht fällt, oder wenn, dann kräftig weiter runter bis 9674 Punkte. Unter Börsianern ist die technische Analyse allerdings gleichfalls umstritten.

Bliebe eine letzte Möglichkeit: Es könnte natürlich auch sein, dass Anleger aus ganz fundamentalen Gründen – wie den erwarteten Unternehmensgewinnen der Einzelaktien – glauben, dass bei einem Dax unter 10.000 die deutschen Aktien zu billig bewertet sind und deshalb immer kaufen, wenn der Kurs darunterfällt. Das wäre dann allerdings großer Zufall.

Open all references in tabs: [1 - 3]

Leave a Reply