«Das bin nicht ich!»

Naomi Jacobs brauchte «eine sehr langsame Sekunde», um ihr eigenes Gesicht im Spiegel zu erkennen. «Mein Mund stand vor Horror weit offen.» In Panik wich sie vor sich selbst zurück, sank weinend auf den Boden. Falten, dunkle Ränder unter den Augen, das Haar kurz. Wer war das? «Mein Gehirn versuchte dieses Gesicht, das ich gerade gesehen hatte, einzuordnen. Nein, das konnte nicht ich selber sein.» Sie sprang vom Boden auf und starrte wieder in den Spiegel. «Das bin nicht ich!»

Sieben Jahre später sitzt Naomi Jacobs im Café Kim By The Sea. Von Strandatmosphäre ist wenig zu spüren, vor den Fenstern im Süden Manchesters drängen sich neu gebaute Wohnblöcke. Trotzdem bedeutet dieses Café ihr viel, hier hat sie Puzzleteil um Puzzleteil ­ihres Lebens wieder zusammengesetzt. Nun hat sie ein Buch («Forgotten girl», englisch) über eine Erfahrung geschrieben, die ein Albtraum ist: aufzuwachen und sich nicht mehr an das eigene Leben erinnern zu können. Eine Person zu sein, die man nicht mehr erkennt.

Dissoziative Amnesie nennen Neurologen die Krankheitsform, unter der Naomi Jacobs acht lange Wochen litt und die sie anfallartig eines Morgens überfiel. Sie war 32 Jahre alt, alleinerziehende Mutter eines elfjährigen Sohnes.

Sie hatte Leo an jenem Aprilmorgen im Jahr 2008 geweckt, ihm das Frühstück hingestellt, dann hatte er sich auf den Weg zur Schule gemacht. Naomi Jacobs hatte harte Wochen hinter sich, sie bereitete sich auf das Uni-Examen in Psychologie vor. Sie führte eine unglückliche Liebesbeziehung, die sie nicht schlafen liess, über Wochen. Und sie rauchte Gras, zu viel Gras, das wusste sie selbst. Früher hatte sie auch Kokain genommen, Speed, LSD.

Nachdem Leo in der Schule war, so rekonstruierte sie es Tage später, ging sie nach Hause und legte sich ins Bett. Später wachte sie auf, schweissgebadet. In der festen Überzeugung, 15 Jahre alt zu sein, sich im Jahr 1992 zu befinden – eine Zeit ohne Smartphones und Internet für jedermann, ohne Google oder Facebook. Sie ging in ein Gymnasium in Wolverhampton in den West Midlands, lebte mit ihrer Schwester und ihrer Mutter zusammen. Und sie hatte grosse Pläne, was einmal aus ihr werden sollte.

Und dann sah sie in den Spiegel. Panik stieg in ihr auf, es schien, als sei sie in ein fremdes Leben geschleudert worden. Sie konnte sich nur noch an eine einzige Telefonnummer erinnern, die sie schliesslich auf «diesem merkwürdigen schnurlosen Telefon wählte». Es war die Nummer einer Freundin, die sich irgendwie in ihrem Gedächtnis festgesetzt hatte. Die Freundin und Naomis Schwester Simone manövrierten die junge Frau schliesslich behutsam durch die folgenden Stunden und Tage.

Unvorstellbar, dass sie tatsächlich 32 Jahre alt sein sollte, unvorstellbar auch dieses Leben: alleinerziehende Mutter in einer Sozialwohnung. «Im Geheimen wollte ich meine Erinnerung an die vergangenen 17 Jahre überhaupt nicht wiederhaben, denn das ungute Gefühl kam in mir hoch, dass die Zukunft nicht so aussah, wie ich sie mir vorgestellt hatte.»

Verloren im Gehirn

Das Gedächtnis zu verlieren bis zu jenem Zeitpunkt, zu dem noch alles in Ordnung war, sei ein typisches Merkmal für Dissoziative Amnesie, sagt Adam Zeman. Zeman ist an der Universität von Exeter Professor für Kognitive Neurologie. Ein- bis zweimal im Jahr behandelt er Patienten mit diesem Krankheitsbild. Der Begriff «dissoziativ» bedeutet, dass sich ein Teil des Gehirns vom anderen löst. Im Frontalbereich befinde sich, so Zeman, der Speicher, auf dem unsere Erinnerungen abgelegt sind. «Der kann in seltenen Fällen von einer Art Selbstschutzmechanismus vom Netzwerk abgekoppelt werden. Etwa bei traumatischen Erlebnissen.» Bei Menschen, die einen Mord begangen haben, konnte man etwa beobachten, dass sie sich an die Tat selbst nicht erinnern konnten. «In den meisten Fällen haben Amnesie-Patienten eine Vorgeschichte schwerer Depressionen. Sie treten mit der Amnesie eine Art Flucht an», sagt Zeman.

Tatsächlich war auch bei Naomi Jacobs 1992 das Jahr, in dem ihr Leben aus der Bahn geraten war. Das Verhältnis zu ihrer alkoholkranken Mutter war angespannter denn je. Die Mutter hatte sich vom geliebten Stiefvater getrennt. Der Stress der Prüfungen für die Aufnahme in die englische Oberstufe wurde der 15-Jährigen zu viel. «Ich hatte das Gefühl, dass ich das alles nicht mehr schaffe, dass einfach alles zu viel ist. Dass ich nie in meinem Leben tun kann, was ich möchte», erzählt sie. Sie versuchte damals, sich das Leben zu nehmen, schluckte Tabletten. Doch statt mit Verständnis reagierte ihr Umfeld mit Vorwürfen. «Ich hatte mich aufgegeben, fing an, Drogen zu nehmen, zog in England herum, ziellos. Bis ich 21 war und mit Leo schwanger wurde.» Für das Kind, von dessen Vater sie sich schon vor der Geburt getrennt hatte, versuchte sie Stabilität in ihr Leben zu bringen. Sie schloss eine Ausbildung für Chinesische Medizin ab, machte eine eigene Praxis auf, lehrte die Kunst des Heilens.

Ewige Mutterliebe

Aber etwas stimmte nicht. Durch einen Reiki-Kurs fand Naomi Jacobs schliesslich heraus, dass ihr die Erinnerung an Kindheitsjahre fehlte. Gerüche und Bilder lösten mit der Zeit immer häufiger Flashbacks aus. Mit 29 kam schliesslich die Erinnerung an ein verschüttetes Trauma hoch. Sie war als Sechsjährige missbraucht worden. «Wahrscheinlich habe ich damals beschlossen, das Erlebte wegzuschliessen.»

Die zweite Amnesie, sagt sie heute, sei ein Glücksfall gewesen. «Sie hat mich gezwungen, alles zu dekonstruieren. Mein ganzes Leben erst auseinanderzunehmen und dann wieder zusammenzubauen, aber auf einem viel solideren Fundament.» Professionelle Hilfe bekam sie allerdings keine, der Hausarzt schickte sie mit einem Rezept für Schlaftabletten aus der Praxis und dem Rat, sich ein wenig auszuruhen. Naomi Jacobs ging deshalb selbst auf die Suche nach einer Diagnose, sie wälzte Fach­bücher und begann, ihre Tagebücher von 2008 bis 1992 rückwärts zu lesen, acht Wochen lang. Auch Gerüche, Musik, TV-Programme brachten die Erinnerung nach und nach zurück. Wie man Auto fährt, den Weg zur Schule – all das wusste Naomi noch, weil es Teil ihres semantischen Gedächtnisses war, automatische, über lange Zeit angeeignete Handlungen. Aber ihre Lieblingsspeisen, welche Kleider sie gern trug, alles, was mit Emotionen zusammenhing, war verschwunden.

Nur eines musste sie nicht wiederfinden: ihre Mutterliebe. Am Nachmittag ihres Zusammenbruchs nahm ihre Schwester sie mit zur Schule, um Leo abzuholen. Das Trauma, in einem fremden Leben aufzuwachen, schnürte ihr den Atem ab. Und jetzt sollte sie auch noch einen Sohn in Empfang nehmen, den sie nicht zu kennen glaubte. «Als er aus der Doppeltür kam, geschah etwas Merkwürdiges in meiner Brust. Ich fühlte eine riesige Weichheit in mir. Er gehörte zu mir. Unmöglich hätte ich sagen können, Leo sei nicht mein Sohn.» Sie wusste einfach, er ist es.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 31.05.2015, 21:20 Uhr)

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