Buchstabensalat im Gehirn – Tages

Buchstabensalat im Gehirn

Bei Kindern mit einer Leseschwäche arbeitet das Gehirn anders. Jetzt untersuchen Forscher an der Universität Zürich, ob sich dies auch auf das Lernen einer Fremdsprache auswirkt.

Verkabelt: Mithilfe von Elektroden am Kopf lässt sich die elektrische Aktivität des Gehirns messen.

Verkabelt: Mithilfe von Elektroden am Kopf lässt sich die elektrische Aktivität des Gehirns messen.
Bild: www.sfh-muenster.de

Neue Hilfe bei Leseschwäche

Grösserer Abstand der Buchstaben

Obwohl in der Schule die meisten Kinder problemlos lesen lernen, haben fünf bis zehn Prozent der Schüler trotz guter Voraussetzungen grosse Schwierigkeiten. Sie können Buchstaben, Wörter und Sätze nur schwer entziffern und deshalb nicht fliessend lesen. Viele dieser Kinder sind Legastheniker. Diese Lese-/Rechtschreibschwäche ist oft bis ins Erwachsenenalter nachweisbar und stellt eine psychische Belastung dar.

Nun hat ein internationales Forscherteam festgestellt, dass bereits ein einfacher Trick ausreicht, um den Kindern zu helfen. Wie die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift «Proceedings of the National Academy of Sciences» berichten, genügt es, den Abstand zwischen den Buchstaben zu vergrössern. Dies hat dazu geführt, dass die Kinder nicht mehr so stark durch benachbarte Buchstaben abgelenkt waren, sich das Lesetempo deutlich erhöhte und sie weniger Fehler machten. Die Studie wurde mit Kindern in Italien und Frankreich durchgeführt.

Die Forscher wollen die betroffenen Schüler mit der neuen Textformatierung motivieren, mehr zu lesen, sodass sie sich auch schriftlich mehr Wissen aneignen können. In der Schule müssen sie viel lesen, wodurch sie stark benachteiligt sind. Die Experten hoffen, dass man ihnen mit dieser einfachen Massnahme helfen kann, den Teufelskreis zu durchbrechen.(bry)

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Das siebenjährige Mädchen sitzt in einem Sprachlabor der Universität Zürich und ist am ganzen Kopf mit 128 Elektroden verkabelt. Sie scheinen die Erstklässlerin nicht gross zu stören, denn sie will nun den Kurzfilm von Tom und Jerry auf dem Laptop sehen. Statt der gewohnten Musik zur skurrilen Verfolgungsjagd der beiden Comicfiguren hört sie aus den kleinen Lautsprechern auf dem Tisch aber nur ein Da-da-da-ta-da in unterschiedlicher Reihenfolge.

«Das ist ein passiver Sprachtest, bei dem wir messen, welche Regionen im Gehirn beim Hören von Sprachlauten aktiv sind», sagt Urs Maurer vom Psychologischen Institut der Universität Zürich, der die mehrjährige Studie «Frühenglisch im Gehirn» leitet. Gemeinsam mit seinem Team führt er diese Untersuchungen auch an mehreren Schulen im Kanton Zürich und Bern durch.

Englischtests für Drittklässler

Bei einem weiteren Test sieht das Mädchen nun Wörter auf Deutsch und wortähnliche Zeichen. Wiederholen diese sich, soll sie auf eine Taste drücken. Zudem muss sie in einer anderen Sitzung ohne die Elektroden auf dem Kopf Sätze lesen und beurteilen, ob sie Sinn ergeben. Später, wenn die Schülerin in der dritten Klasse ist, werden ähnliche Tests mit englischen Wörtern durchgeführt.

Ziel der Untersuchung ist es, herauszufinden, wie das Gehirn generell eine Fremdsprache verarbeitet. Und ob Schüler mit Legasthenie oder einem Risiko für eine Leseschwäche auch beim Englischlernen Schwierigkeiten haben. «Je besser wir die neurobiologischen Vorgänge im Gehirn verstehen, desto früher kann man betroffene Kinder auch unterstützen und fördern», betont Maurer, der im kommenden Herbst mit den ersten Englischtests beginnt.

Verunsicherte Schüler

Legasthenie ist eine Störung im Erwerb und Gebrauch der Schriftsprache. Rund fünf bis zehn Prozent aller Schulkinder sind betroffen. Ihnen fällt es schwer, lesen zu lernen. «Dies hat nichts mit Intelligenz zu tun», betont Maurer. Doch da ein Grossteil des Wissens in der Schule schriftlich vermittelt werde, haben sie erhebliche Nachteile. Häufig seien sie frustriert und verunsichert, was sie vor allem auch psychisch belaste. Denn sie merken selbst, dass sie viel zu langsam lesen.

Mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG) misst die Zürcher Forschergruppe den zeitlichen Verlauf der Informationsverarbeitung im Gehirn bei mehr als 100 Schülern. So brauchen Kinder im Durchschnitt 200 Millisekunden, um beispielsweise einen Buchstaben von einem Dreieck zu unterscheiden. Obwohl auch Legastheniker dies ähnlich schnell verarbeiten, reagieren sie im Vergleich zu Nicht-Legasthenikern weniger stark auf Schrift und Wörter.

Um die Ergebnisse von Kindern mit und ohne Legasthenie auch beim Fremdspracherwerb altersgerecht einordnen zu können, stammt bei der aktuellen Zürcher Studie ein Teil der Schüler aus der Kontrollgruppe aus dem Kanton Bern, wo Englisch erst später auf dem Stundenplan steht. Neben den Sprachaufgaben werden am Anfang zusätzlich Verhaltenstests ohne EEG durchgeführt. Ausserdem werden die Eltern zur Entwicklung des Kindes sowie zum Familienhintergrund befragt. Es ist bekannt, dass Legasthenie auch genetisch bedingt sein kann.

Früher erkennen

Oft wird eine Leseschwäche erst am Ende der ersten oder zweiten Klasse festgestellt. Doch eigentlich könnte man Kinder mit einem erhöhten Risiko für Legasthenie schon viel früher erkennen: Kinder, die später in der Schule enorme Schwierigkeiten beim Lesen haben, verarbeiten schon im Kindergarten bestimmte Sprachlaute und Klänge anders als andere Kinder.

Um das genauer zu untersuchen, hatte die Psychologin Nadine Gaab von der Harvard Medical School in Boston vor kurzem Kindergartenkinder mit einer Legasthenie-Familiengeschichte untersucht. Sie unterzog die Kinder einer funktionellen und strukturellen Magnetresonanztomografie. Dabei zeigte sich: Bei Kindergartenkindern haben die gleichen Hirnregionen strukturelle Veränderungen und eine verminderte Aktivität wie bei älteren Kindern und Erwachsenen mit Legasthenie. Besonders betroffen war die Verbindung zwischen dem Occipital-Lappen, der hintersten Region des Grosshirns, und dem Temporal-Lappen, dem seitlichen Teil des Grosshirns.

Die US-Studie macht deutlich, dass Legasthenie nicht erst mit dem Eintritt in die Schule beginnt. Die Hirnareale zum Verarbeiten von Sprachklängen waren schon vorher weniger aktiviert. «Viele Faktoren können dabei eine Rolle spielen», sagt Gaab. Die Ursachen von Legasthenie seien sehr vielfältig.

Dennoch gehen Experten davon aus, dass Kinder schon ab dem Säuglingsalter auf das Lesenlernen vorbereitet werden. Zum Beispiel, wenn Babys die ersten Wörter, Lieder oder Geschichten hören, später als Kleinkinder anfangen zu sprechen und im Kindergartenalter Interesse haben, mit den ersten gelernten Buchstaben ihren Namen zu schreiben.

Säuglinge in der Röhre

«Deshalb führten wir auch bereits Studien mit zwölf Monate alten Säuglingen durch, bei denen in der Familie Legasthenie vorkommt», sagt Gaab. Natürlich könnten sie noch keine detaillierten Sprachtests mit ihnen machen. Doch sie würden die Struktur der grauen und weissen Substanz des Gehirns anschauen, während das Baby in der Röhre des Magnetresonanztomografen ruhig schläft. Dies gebe Hinweise darauf, ob das Baby ebenfalls bereits die typischen, für Legasthenie charakteristischen Hirnveränderungen aufweist. Solche Untersuchungen könnten in Zukunft zu Frühförderungsprogrammen führen. Und zwar bevor die Kinder in der Schule ihr Selbstwertgefühl verlieren und von andern fälschlicherweise als dumm und faul abgestempelt werden.

Auch das Mädchen aus Zürich hat als Lese-Neuling am Ende der ersten Klasse enorme Schwierigkeiten, Buchstaben und Symbole visuell zu erkennen und zu verarbeiten. Dennoch ist es jetzt voll bei der Sache und macht den ganzen Nachmittag – mit mehreren Pausen – fleissig mit. «Als Belohnung darf sie sich aus einer kleinen Schatzkiste zum Beispiel Farbstifte aussuchen», sagt Maurer. Eigens für die Fussball-EM erhielten die Kinder derzeit auch Panini-Bilder. Solche Kleinigkeiten würden die Motivation enorm steigern, mehr als drei Stunden lang mitzumachen. (Tages-Anzeiger)

Erstellt: 09.06.2012, 16:08 Uhr


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