Bin mit dem Töff kurz weg in der Wildnis

Bin mit dem Töff kurz weg in der Wildnis

Von Marcus Moser.
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Immer mehr und immer mehr ältere Schweizer, aber auch Schweizerinnen lieben die kleine Flucht auf dem Motorrad. Der Berner Psychologieprofessor Hansjörg Znoj kann diesen Trend deuten. Er hat ein Buch über die Lust am Töfffahren und das Wechselspiel Mensch - Maschine verfasst.

Bald geniessen sie wieder den Flow in den Kurven der Passstrassen: Motorradfahrer am Sustenpass, der nach der Winterpause Mitte Juni eröffnet wird.

Bald geniessen sie wieder den Flow in den Kurven der Passstrassen: Motorradfahrer am Sustenpass, der
nach der Winterpause Mitte Juni eröffnet wird.
Bild: Keystone

Herr Znoj, die Motorradverkäufe stiegen 2011 in der Schweiz gegenüber dem Vorjahr um über 16 Prozent an. Worauf führen Sie das zurück?
Hansjörg Znoj: Es scheint tatsächlich einen Widerspruch zu geben zwischen dem gesellschaftlichen Anspruch, modern, sicher und dazu umweltfreundlich mobil zu sein, und der wachsenden Beliebtheit eines Verkehrsmittels, das den Ruf hat, gefährlich und laut zu sein, und dazu wenig umweltfreundlich ist. Hier setzt meine Fragestellung ein: Wie ist es psychologisch zu erklären, dass das Motorrad für viele so attraktiv ist, dass sie mehr oder weniger bewusst höhere Risiken eingehen? Welcher Art von Lustgewinn wird hier generiert?

Und – welcher?
Ein wichtiger Faktor scheint mir zu sein, dass das Motorrad wie kaum ein anderes Fahrzeug dem Steuernden das Gefühl der Kontrolle über den Fahrzustand vermittelt und einen direkten Zugang zum gefühlten Unterwegssein erlaubt.

Kontrolle setzt Beherrschung voraus. Vor einer Kurve muss ich bremsen, zurückschalten, mein Gewicht verlagern, den Radius anpeilen. Das ist anspruchsvoll und tönt nicht nach Erholung.
Stimmt, Motorrad fahren ist anspruchsvoll, es fordert höchste Konzentration und einen automatisierten, das heisst gut gelernten, Bewegungsablauf, der erst erworben werden will. Komplexe Bewegungsabläufe sind aber äusserst befriedigend, wenn man sie beherrscht. Das sehen wir beim Skifahren, beim Tanzen oder auch beim Beherrschen eines Musikinstruments. Die Konzentration, die bei einer solchen Tätigkeit entsteht, kann befreiend, ja entgrenzend wirken, wie es der Psychologe Czikzentmihaly im Begriff Flow zusammenfasst. In diesem Zustand verschmilzt der Akteur mit der Tätigkeit. Das geschieht nur, wenn die Tätigkeit selbst anspruchsvoll ist. Das Motorradfahren ist geeignet, einen solchen Flow zu ermöglichen. Dann wachsen Fahrer und Maschine sozusagen zusammen, werden eine Einheit.

Das wäre die Mensch-Maschine oder der Maschinenmensch. Sie sprechen in Ihrem Buch von einer neuronalen Vernetzung von Mensch und Motorrad.
Ja. Die Oberfläche unseres Körpers ist neuronal repräsentiert, sie ist sozusagen im Kopf noch einmal abgebildet und mit unserem zentralen Nervensystem verknüpft. Sensorische und motorische Verbindungen erlauben es, den Körper nach unseren Bedürfnissen auszurichten und zu handeln. Diese Verbindungen können darüber hinaus Werkzeuge und andere Objekte in das Körperschema einbeziehen. Das Motorrad ist vielfältig mit unserem Körper verbunden und wird über Hände, Füsse, Arme, Beine und Gesäss gesteuert. Diese vielfältigen Kontakte erlauben eine neuronale «Verschmelzung» mit dem Werkzeug Motorrad.

Dadurch wird das Motorrad vom Transportmittel zum erweiterten Selbst.
Von aussen betrachtet gibt es eine ähnliche Verknüpfung. Hier werden bestimmte Eigenschaften des Motorrads – wie laut, schnell, ölend und daher schmutzig – auf den Fahrer übertragen. Die Psychologie spricht von einem Haloeffekt, wenn bestimmte auffällige Eigenschaften einer Person auf den Charakter einer Person übertragen werden. Mitunter reicht die Feststellung, dass jemand Motorrad fährt, und schon wird ein ganzes Bündel von Vorurteilen assoziiert.

Die Erweiterung menschlicher Fähigkeiten und Leistungen ist ein aktuelles Thema – denken wir nur an Doping.
Motorradfahren ist Doping, klar. Nur verstehen wir unter Doping die Einnahme bestimmter Substanzen und nicht so sehr Maschinen, die uns «dopen», also zur Leistungssteigerung befähigen. Fahr- oder Flugmaschinen sind aber nichts anderes als Werkzeuge zur Verstärkung der körpereigenen Mobilität. Wenn wir diese Werkzeuge beherrschen, so führt das zu einem Gefühl der Kompetenzsteigerung. Motorradfahrer nehmen als Droge statt Kokain das Motorrad. Das hat den Vorteil, dass die dazu notwendigen Kompetenzen auch wirklich gesteigert werden, da ja neues Verhalten gelernt werden muss. Früher hat man zur Steigerung der Mobilität Tiere dressiert und geritten. Motorradfahren kommt dieser Art von Fortbewegung ziemlich nahe. Vom Mythos des «Ritters» profitiert auch der Fahrer eines hochgerüsteten Motorrads.

Zurück zum Flow. Wie hängen dieses Erleben, das Motorrad und komplexe Lernvorgänge zusammen?
Komplexe Handlungen zu lernen, ist in sich selbst schon befriedigend, solange wir dabei Erfolgserlebnisse haben. Der Flow kann sich dann einstellen, wenn alles «passt», wenn die Bewegungsabläufe das tun, was sie tun sollen. Das Motorrad dient hier als Tätigkeitsfeld, das wiederum die Fähigkeiten des Menschen hinsichtlich der Mobilität entscheidend erweitert. Das Beherrschen der Maschine ist die Voraussetzung dafür, aber das reicht längst noch nicht. Schliesslich müssen auch die Strassenverhältnisse, der Verkehr und so weiter berücksichtigt werden. Das alles führt zu einem immensen Zuwachs an gefühlter Kontrolle, einem Zuwachs an Selbstbestimmung, zumindest in dieser «abgeschlossenen» Welt.

Wir leben in einer zunehmend entkörperlichten, digitalen Welt mit formalisierten Arbeitsabläufen. Ist es zu spekulativ, die Faszination am Motorradfahren als körperlichen, analogen Gegenentwurf in der Freizeit zu sehen?
Überhaupt nicht. Ich sehe solche Fluchten in vielen Gebieten, ich denke zum Beispiel an die neu erwachte Liebe zur Natur, den Wanderboom oder die unzähligen Dokumentarfilme im Fernsehen. Natur zieht uns an und führt auch zu Aktivität, zu Bewegung. Das Motorradfahren ist ein Versuch, die Fortschritte der Zivilisation körperlich nahe zu erleben und sich gleichzeitig einen Teil der Wildnis zurückzuerobern.

Wildnis?
Wildnis im übertragenen Sinn: In der Wildnis lauern Gefahren, ich muss mich dort gekonnt und geschickt bewegen. Die Wildnis ist verlockend, weil man Dinge entdecken kann. Sie ist bedrohlich, weil man sein Leben verlieren kann. Zusätzlich erlaubt Motorradfahren die Flucht vor Normen und Pflichten.

Die temporäre Flucht aus einem formalisierten Alltag ist normal geworden. Dazu passt, dass vis-à-vis dem Bundeshaus im Kantonalbank-Gebäude eine gediegene Motorradboutique steht. Noch vor 30 Jahren wäre das undenkbar gewesen.
Sogar vor 20 Jahren noch. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich tatsächlich geändert. Das Bild der Öffentlichkeit auf Motorradfahrer hat sich vom Outlaw zum gern gesehenen Konsumenten von Motorradartikeln gewandelt. Der Normdruck hat in allen Berufsfeldern zugenommen. Das Motiv des «Aussteigens» ist geblieben, aber es hat einen gesellschaftlich akzeptierten Weg genommen.

Zur Imageveränderung passt, dass immer mehr Frauen Motorrad fahren. Gibt es Charaktertypen, die besonders angesprochen werden?
Wenn man Motorradfahrer und Motorradfahrerinnen nach ihren Vorlieben für die Freizeitgestaltung fragt, so fällt auf, dass sie als Motiv oft Abwechslung, Spannung erleben oder Ähnliches angeben. Das ist ein Wesenszug, den sie mit anderen sogenannten Risikosportlern teilen. Die Wissenschaft bezeichnet diesen Hang als «Sensation Seeking». Personen, die hohe Werte in dieser Eigenschaft angeben, werden in der Literatur als gefährdet betrachtet, weil sie sich gewollt bestimmten Risiken aussetzen, um Spannung und damit Lust zu erleben. Das bedeutet aber nicht, dass Personen mit hohen Werten im «Sensation Seeking» auch tatsächlich mehr Unfälle erleiden. Bei Skifahrerinnen und Skifahrern hat man sogar das Gegenteil gefunden, «Sensation-Seeker» erleiden nach dieser Untersuchung weniger Beinbrüche als solche, die das Risiko weniger bewusst suchen.

Das hat wohl mit Routine zu tun. Nun werden einerseits Motorräder zunehmend mit Unterstützungssystemen ausgerüstet. ABS, Traktionskontrolle, Schaltautomaten und elektrisch verstellbare Fahrwerke werden angeboten. Schmälert das nicht das Gefühl der Kontrolle?
Aktuelle Motorräder sind auf einem technischen Stand der Rennmaschinen vor 20 Jahren. Die Fahrwerke, Motoren und auch die Bremskräfte übersteigen die Umsetzungsfähigkeiten der allermeisten Motorradfahrer bei weitem. Diese Kräfte kommen normalerweise auf der Strasse gar nicht zum Einsatz. Wenn es dann doch mal zu einer Schreckbremsung kommt, dann wird oftmals «überbremst», und es kommt zu einem Unfall. Ein ABS-Bremssystem kontrolliert eine solche Bremsung und verhindert ein Blockieren des Rads. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch für die Abgabe der Motorenleistung. Damit wird die Kontrolle – mindestens der extremen Fahrzustände – aber an die Maschine zurückgegeben, im Extremfall wird der Mensch entmündigt. Das ist eine Entwicklung, die man aus Sicherheitsüberlegungen begrüssen muss, die aber psychologisch eher dazu führt, dass das Gefühl der Kontrolle über die Maschine verloren geht und der Gewinn des Motorradfahrens sich paradoxerweise schmälert.

Andererseits gibt es einen Trend zu leichteren und einfacheren Maschinen im Stil vergangener Jahre. Die Suche nach der gute, alten Zeit?
Nicht nur. Sicher spielt die Nostalgie nach der guten alten Zeit eine Rolle, vor allem, wenn berücksichtigt wird, dass der Durchschnittsmotorradfahrer älter als 50 Jahre alt ist. Da wecken alte Bikes eben auch Erinnerungen an die «goldene» Jugend. Aber die technische Entwicklung mit immer schnelleren, optimalen, verkleideten Fahrzeugen entspricht nicht notwendigerweise dem Bedürfnis nach gefühlter Bewegung. Motorräder im Stil der 1960er-Jahre und mit der technischen Perfektion heutiger Technologien füllen offensichtlich ein Lücke im Angebot.

Die ersten Elektromotorräder sind auf dem Markt. Ihre Leistung, Reichweite und ihr Aussehen gleichen sich den Benzinvarianten an. Was verändert sich dadurch?
Ein Teil der Faszination von Motorrädern liegt im Einblick in eine verstehbare Technik. Man sieht Zahnräder, die Antriebskette zum Hinterrad und die Schrauben, welche die Teile zusammenhalten. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Funktionsteilen erlauben einen Einblick in die Logik der Maschine. Früher konnte man sogar einen Motor selbst reparieren oder in seiner Leistung steigern. Die heutige Elektronik übernimmt bereits einen grossen Teil der Steuerung – man spricht von Motormanagement –, die Technik wird zunehmend verschlossener. Wenn der Verbrennungsmotor durch einen elektrischen Antrieb ersetzt wird, ist dies nur konsequent.

Müssen Sie Ihr Buch deshalb in 15 Jahren neu schreiben?
Was bleiben wird,sind die Faszination der Fortbewegung, die Dynamik und das geforderte fahrerische Können, ein Motorrad an die Grenzen des physikalisch Möglichen zu bewegen. Die Psychologie des Motorradfahrens wird sich vermutlich nur wenig ändern; ändern werden sich die Motive, sich überhaupt mit so einem Fahrzeug zu beschäftigen. (Berner Zeitung)

Erstellt: 02.06.2012, 09:25 Uhr


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