Besuch bei Jo und Lue – Tages

Eigentlich verhalten sich die Javaneraffen Jo und Lue ähnlich wie Kleinkinder. Bekommen sie eine grosse Papierrolle, sind sie für ein bis zwei Stunden damit beschäftigt. Sie erforschen das für sie ungewöhnliche Material, wickeln lange Streifen von der Rolle ab, reissen und zupfen das Papier auseinander, werfen alles kreuz und quer durch den Raum und richten ein riesiges Chaos an.

«Es sah hier danach aus wie ein Wald aus Papier», erinnert sich der Tierpfleger, der sich seit drei Jahren jeden Tag um die beiden kümmert, aber aus Sicherheitsgründen nicht mit Namen in der Zeitung stehen möchte. Denn die beiden Javaneraffen sind nicht in einem Zoo, sondern in Gehegen des Instituts für Neuroinformatik der Universität und ETH Zürich. Mit ihnen werden dort aber keine Tierversuche gemacht, da sie nur vorübergehend aufgenommen wurden und ursprünglich von der Universität Freiburg stammen, wo es im Gegensatz zum Irchel zu wenig Platz hatte.

Nun sollen in Zürich die Gehege von Jo und Lue, die bald wieder nach Freiburg umziehen werden, wieder mit zwei oder drei Rhesusaffen für Versuche zur Erforschung von Gehirnprozessen bei Schizophrenie belegt werden. Wird der geplante Versuch bewilligt, bedeutet dies eine Kehrtwende im heftig geführten Streit zwischen Wissenschaftlern und Tierschützern, der zu einem Präzedenzfall wurde. Denn letztlich führte dieser mit dazu, dass in Zürich am Institut für Neuroinformatik seit 2009 keine Primaten mehr als Versuchs­tiere gehalten werden.

Im Erdgeschoss des Instituts tauchen nun zuerst Jo und später Lue im 34 Quad­ratmeter grossen Aussengehege auf, das wie in einem modern geführten Zoo mit Rückzugsorten in verschiedenen Höhen, frisch geschnittenen grünen Ästen und Stroh am Boden eingerichtet ist. Die zwei Javaneraffen springen von einem aufgehängten Autoreifen herunter, klettern auf eine Schaukel aus einem Feuerwehrschlauch und sind irgendwann auf einer Hängebrücke aus Holz.

«Ich bringe ihnen immer Neues mit, damit es ihnen nicht langweilig wird», sagt der Tierpfleger. Mal seien es Papiersäcke, mal Kartons oder eine leere Box für Kosmetiktücher, in die Leckerbissen in Stroh versteckt seien. Im Sommer stelle er ihnen eine Badewanne rein, in die sie von oben hineinspringen würden. Jeden Abend verkriechen sich die zwei zum Schlafen dann in eine an der Decke befestigte, ehemalige Brotkiste aus der Bäckerei. Dort haben sie sich aus Stroh ein Nest zurechtgemacht.

Abwechslung im Alltag

Am Tag schaue er sechs- bis achtmal nach ihnen, sagt der Tierpfleger, der einen blauen Overall trägt und aus Hygienegründen blaue Schuhüberzüge. Täglich putzt er die Gehege und versteckt den Tieren dort mehrmals irgendwo ihr Futter, damit sie es suchen müssen und möglichst viel Abwechslung haben. Zu fressen bekommen sie Trockenfutter, Cornflakes, Reiswaffeln und Studentenfutter, aber auch frische Früchte und Gemüse. Einmal in der Woche gibt es eine Portion Quark. Und zu trinken erhalten sie Wasser und hin und wieder als Belohnung einen Fruchtsaft.

Die neugierige Jo kommt nun an die blitzblank geputzten, steril wirkenden Gitterstäbe des mehr als 20 Quadratmeter grossen Innengeheges in der Nähe einer rot leuchtenden Wärmelampe. Ihre gelbbraunen Augen fokussieren nur noch eine Sache: die Kamera der Fotografin. Sie will das Gerät anfassen und damit herumspielen. «Jo ist die Mutige und immer als Erste da», sagt der Tierpfleger. Wenn er im Gehege sei, müsse er stets aufpassen, dass sie ihm nichts klaue. Besonders gern habe sie Vierkantschlüssel oder Kugelschreiber.

Dass es vor der Ankunft von Jo und Lue am Institut keine Primaten mehr gab, lag vor allem daran, dass aufgrund von Rekursen der Tierversuchskommission des Kantons Zürich zwei umstrittene Versuche mit Rhesusaffen im November 2006 gestoppt wurden. Die Forscher Daniel Kiper und Kevan Martin durften ihre geplanten Experimente nicht weiterführen, bei denen sie mit hilfe von visuellen Lernaufgaben feststellen wollten, wie sich das Hirn etwa nach einer Schädigung reorganisiert.

Begründung für die Ablehnung der beiden Gesuche: Die Würde des Tiers sei bei den Experimenten verletzt. Für die Versuche wurden sie in einen sogenannten Primatenstuhl gesetzt. Während des Versuchs wurde die Hirnaktivität mit- hilfe von implantierten Elektroden gemessen und der Kopf der Tiere fixiert. Auch das Bundesgericht hat Ende 2009 ein Verbot für die Weiterführung dieser Versuche bestätigt.

Noch vor diesem Beschluss ging der Neurobiologe Hansjörg Scherberger, der 2007 als einziger in Zürich noch eine Erlaubnis für ähnlich ablaufende Versuche mit Rhesusaffen erhalten hatte, ans Deutsche Primatenzentrum nach Göttingen. Damals sagte er, dass die Situation in Zürich für ihn zu unsicher gewesen sei. Denn für eine solche Studie sei viel Planung und Arbeit erforderlich. Und dass man einen Versuch mit Primaten nicht wie ein Hobby von heute auf morgen stoppen könne.

Zwischen Nähe und Distanz

Doch wie erträgt es ein Tierpfleger, dass mit seinen Schützlingen Experimente gemacht werden? Trotz der Nähe zu den Tieren müsse er auch eine professionelle Distanz haben, gesteht er. Das sei nicht immer ganz einfach. Allerdings seien solche Versuche nur mit der Kooperation der Affen möglich, die schrittweise an alle Abläufe herangeführt werden würden. Er finde es wichtig, erklärt der Tierpfleger, dass es neue Erkenntnisse in der Wissenschaft gebe, um zum Beispiel Krankheiten zu bekämpfen oder diese besser zu verstehen. Sein Beitrag dazu sei, dass er für die Tiere da sei und sie so gut kenne, dass er merke, wenn es ihnen nicht gutgehe. Zum Beispiel würden sie bei Angst die Augenbrauen hochziehen, die Ohren anlegen und eine Art Hupton ausstossen. In einem solchen Fall könne man deshalb sofort eingreifen und etwa die Verhaltensexperimente beenden.

Andererseits hätten die Tiere mit der Zeit auch eine so enge Beziehung zu ihm, dass sie beispielsweise merkten, wenn er seine Haare etwas geschnitten habe, und ihm dann neugierig über den Kopf streichen würden. Trage er bei Regenwetter im Aussengehege eine Kapuze, würden sie einen Aufstand machen. Dann würden sie sich aufregen und dies mit Lauten deutlich machen. Bis er sie wieder absetze. (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 18.09.2014, 23:28 Uhr)

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