Beipackzettel für die Psychotherapie – Psychologen erforschen Risiken und …

"Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker."

In jeder Pillenschachtel steckt ein Beipackzettel. Bei Psychotherapien gibt es so etwas nicht - Risiken und Nebenwirkungen aber durchaus. Doch bisher wurden sie kaum erfasst. Der Psychologe Bernhard Strauß von der Uniklinik Jena hat jetzt ein Lehrbuch darüber geschrieben.

"Meine persönliche Theorie ist, dass die Psychotherapie immer die Überzeugung hatte, man muss sich rechtfertigen. Viele Psychotherapeuten und Forscher mussten erstmal klar nachweisen, dass Psychotherapie etwas sehr Wirksames ist, und da hätte es gestört, wenn man diese Fehler und negativen Effekte auch mit berücksichtigt hätte. Jetzt sind wir in einem Zustand, wo wir sagen können, Psychotherapie ist ein hocheffektives Behandlungsverfahren, und dann kann man eben auch mal genauer hinschauen, was es für Nebenwirkungen hat."

Genauer hingeschaut hat nun Yvonne Nestoriuc von der Universität Marburg. Die Psychologin hat fast 700 Patienten befragt, die unter Depressionen, Ängsten oder Essstörungen litten. Sie hatten in einer Klinik oder einer Ambulanz eine Psychotherapie gemacht.

"Patienten berichten mit Raten von 3 bis 30 Prozent von negativen Effekten von Psychotherapie. Die häufigsten Nebenwirkungen waren die emotionale Destabilisierung nach der Therapie. Dann gab es Probleme, dass die Patienten sich verletzt fühlten durch Aussagen des Therapeuten, dass die Patienten sich gezwungen fühlten zu bestimmten Interventionen und dass Patienten berichten, sich auch abhängig zu fühlen vom Therapeuten."

Besonders in langwierigen Therapien kann es passieren, dass Patienten unselbstständig werden. Manche Psychologen nennen das "Woody-Allen-Syndrom", nach dem amerikanischen Schauspieler. Motto: "Ich muss erst meinen Therapeuten fragen." Deshalb sollten Therapeuten ganz klar mit ihren Patienten über die Ziele sprechen, damit diese selbst Verantwortung übernehmen. Manche Nebenwirkungen lassen sich aber nicht vermeiden. Wenn jemand zum ersten Mal über eine schlimme Erfahrung spricht, dann ist es ganz natürlich, dass es ihm erst einmal schlechter geht. Das ist auch für die Therapeuten nicht leicht.

"Hier gab es zum Beispiel eine Patientin, die sich im Rahmen der Therapie erinnert hat und dann auch berichtet hat von einem Missbrauch und daraufhin dann ihre Beziehung zu ihrem Mann, dem sie nie davon erzählen konnte, so sehr hinterfragt hat, in dem Sinne: Wieso konnte ich nie mit ihm darüber reden? Muss ich mich jetzt trennen? Was ist mit meiner Beziehung? Und das Ganze nahm eine Dynamik an, die ich nicht antizipiert hatte und dann auch nicht mehr kontrollieren konnte."

Auch, um solche Probleme besser auffangen zu können, sollten Therapeuten ihre Patienten unbedingt über Risiken und Nebenwirkungen aufklären, meint Bernhard Strauß:

"Wir sollten Psychotherapie als Behandlungsmethode so ernst nehmen, dass wir auch vorwegnehmen, dass unerwünschte Wirkungen vorkommen können, nach dem Motto: Wo gehobelt wird, fallen Späne."

Darüber hinaus fordert der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jürgen Margraf, Nebenwirkungen mit einem Meldesystem zu erfassen - so wie es bei Medikamenten geschieht. Das ist aber schwer durchzusetzen. In der Schweiz scheiterte ein solches Projekt bereits. Bernhard Strauß wäre schon mit weniger zufrieden:

"Aber geholfen wäre natürlich schon, wenn es Forschungsprojekte gibt, die systematisch die Prävalenz, also die Häufigkeit von Nebenwirkungen untersuchen und die vor allen Dingen auch Klarheit darüber geben, was die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen in der Psychotherapie eher steigert oder eher verringert, dann könnten wir auch Konsequenzen ziehen."

Am Ende gilt für eine Psychotherapie das gleiche wie für Pillen: Nutzen und Risiken müssen abgewogen werden.

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