Auswanderungsappell an Juden "Netanjahus Reaktion ist vollkommen daneben"

Auswanderungsappell an Juden "Netanjahus Reaktion ist vollkommen daneben"

Carlo Strenger im Gespräch mit Sandra Schulz


Es ist der 9. Mai 2011, der Unabhängigkeitstag in Israel und ein orthodoxer Jude mit Hut telefoniert und blickt dabei auf den Boden, im Hintergrund die israelische Flagge, bestehend aus Lichterketten in der alten Stadt Jerusalem. Sie feiern den 63. Geburtstag des Beginns eines jüdischen Staates. ( imago/UPI Photo)

Benjamin Netanjahu am Montag an die europäischen Juden appelliert, nach Israel auszuwandern. ( imago/UPI Photo)

Die Angst vieler Juden in Europa sei real und müsse ernst genommen werden, sagte Carlo Strenger, Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv, im DLF. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu reagiere aber falsch, wenn er den Juden Europas empfehle, wegzulaufen.

Netanjahu hatte die Juden in Europa nach den jüngsten Anschlägen in Paris und Kopenhagen aufgefordert, nach Israel umzusiedeln. Strenger betonte, viele Juden besonders in Frankreich seien verunsichert. "Diese Angst sollte man nicht leugnen, sie muss ernst genommen werden." Es gebe jährlich in Frankreich über tausend antisemitische Vorfälle. 

Allerdings sei es trotzdem völlig unangebracht, wenn Netanjahu eine "Panikstimmung" schaffe. Sein Aufruf sei zum Teil auch opportunistisch, sagte der Psychoanalytiker.


Das Interview in voller Länge:

Sandra Schulz: "Kommt doch zu uns!" Das ist die Antwort, die der israelische Ministerpräsident Netanjahu gibt, oder zumindest auch gegeben hat auf die Anschläge im vergangenen Jahr in Brüssel auf das Jüdische Museum, auch auf die Attentate von Paris auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" und einen jüdischen Supermarkt und auf die Synagoge in Kopenhagen jetzt am Wochenende. Zuletzt hatte Netanjahu Juden wieder dazu aufgerufen, Europa den Rücken zu kehren und nach Israel zu kommen. Die europäischen Staats- und Regierungschefs, die halten dagegen. Umfassenden Schutz sichert der französische Präsident Hollande den Juden in Frankreich zu, ähnlich Bundeskanzlerin Merkel. Deutschland sei froh und dankbar, dass es wieder jüdisches Leben hier gebe nach dem Holocaust. Trotzdem ist die Verunsicherung erheblich. Das hört man bei Ilan Kiesling, dem Sprecher der Jüdischen Gemeinde. Der hat der ARD gestern das gesagt:

O-Ton Ilan Kiesling: "Zuerst müssen wir wirklich feststellen, dass die Anschläge in Paris und auch in Kopenhagen zu einer großen Verunsicherung unter unseren Mitgliedern geführt haben. Das führt auch so weit, dass jetzt wir das bei den Neuanmeldungen für Kindergärten und jüdische Schulen merken, dass die Eltern ganz genau informiert werden möchten, wie ist die Sicherheitssituation, wie sieht die Sicherheitslage aus. Das ist natürlich fast schon makaber."

Schulz: Wir wollen darüber in den kommenden Minuten sprechen. Zugeschaltet ist Carlo Strenger, Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv und seit vielen Jahren auch Terrorforscher. Guten Morgen!

Carlo Strenger: Guten Morgen, Frau Schulz.

"Die Verunsicherung muss ernst genommen werden"

Schulz: Wir haben es gerade gehört: Die Verunsicherung ist groß, noch größer sicherlich in Frankreich. Brauchen Juden in Europa einen Plan B?

Strenger: Das kommt ein bisschen darauf an, wen Sie fragen. Ich persönlich finde, dass Netanjahus Reaktion auf die verschiedenen Anschläge vollkommen daneben ist. Ich denke nicht, dass die richtige Reaktion ist, den Juden Europas zu sagen, ihr müsst weglaufen. Die Verunsicherung hingegen vieler Juden in Europa, aber vor allem in Frankreich ist absolut real und muss ernst genommen werden.

Schulz: Und die Verunsicherung, die lässt sich auch in Zahlen messen. 2014 war es so, dass so viele Einwanderer wie noch nie zuvor aus westlichen Gesellschaften nach Israel gekommen sind. Aus Europa kamen die meisten aus Frankreich. Welchen Reim machen Sie sich darauf?

Strenger: Man muss hier wirklich differenzieren. In den deutschsprachigen Ländern ist die muslimische Bevölkerung ja meist vor allem aus der Türkei und aus den Balkan-Staaten und das ist eine ganz andere Situation als in Frankreich, wo die muslimische Bevölkerung vor allem algerischen und tunesischen Ursprungs ist und deren Integration sehr viel problematischer und dadurch auch das Gewaltpotenzial viel höher ist. Was ich Ihnen sagen kann ist, dass speziell Juden in Paris, überhaupt in Frankreich, die in ärmeren Vierteln leben, die haben nun wirklich Angst.

Diese Angst, die sollte man nicht leugnen, sie muss ernst genommen werden. Sie ist auch nicht einfach unrealistisch, denn abgesehen von den Terrorakten, die wirklich in die Schlagzeilen kommen, gibt es doch jährlich in Frankreich allein über tausend antisemitische Vorfälle der einen oder anderen Art. Ich möchte nochmals betonen, dass ich es trotzdem unangebracht finde, wenn Netanjahu dann sozusagen eine Panikstimmung schafft. Es mag angebracht sein, dass ein israelischer Ministerpräsident sagt, dass jeder Jude, wo er auch immer lebt und aus welchen Gründen auch immer, das Recht hat, nach Israel zu ziehen, wenn er will. Aber dieser Aufruf sozusagen, rennt weg, ist, glaube ich, zum Teil auch opportunistisch motiviert.

"Misstrauisch gegenüber der Motivation Netanjahus"

Schulz: Aber ist es denn der Aufruf, rennt weg, oder ist es einfach rein psychologisch die Erinnerung zu sagen, hier in Israel wird so viel für die Sicherheit von Juden getan wie vielleicht sonst nirgendwo auf der Welt?

Strenger: Nochmals: Was Netanjahu anbelangt, da bin ich seinen Motivationen ein bisschen misstrauischer gegenüber. Wie ich vorher gesagt habe: Ich denke, die Existenzberechtigung Israels lange vor dem Holocaust war, dass auch die Juden einen Staat haben sollten, wo sie ihre Sicherheit selber in die Hand nehmen können, und dafür ist Israel aufgebaut worden und mittlerweile existiert es seit Langem als legitimer Staat, was man auch immer von bestimmten politischen Linien Israels halten möge. Das ist sehr wichtig und so weiter. Und daran zu erinnern, dass Israel existiert, ist für viele Juden sowohl eine Quelle der Freude als auch eine Erinnerung an potenzielle Sicherheit im absoluten Notfall.

Ich glaube nicht, dass jedes Mal auf jeden Terroranschlag, so tragisch und schlimm die nun sein mögen, diese Erinnerung gemacht werden muss. Man sollte doch auch daran erinnern, dass vor allem im "Charlie Hebdo"-Anschlag ja nicht nur Juden umgekommen sind.

Schulz: Das heißt, Sie können es auch verstehen, dass es Menschen gibt, die sagen, in Frankreich, in Deutschland, wir tun uns das jetzt nicht mehr an, wir gehen nach Israel?

Strenger: Es ist nicht, dass ich sie nicht verstehe. Ich glaube, jeder Mensch soll das Recht haben, dahin auszuwandern oder dort zu leben, wo er oder sie sich wohl fühlen und sicher fühlen. Aber ich möchte nochmals betonen: Ich denke, man muss zwischen den Grundfragen unterscheiden, gibt es ...

Schulz: Jetzt höre ich Carlo Strenger nicht mehr. Die Frage und der Versuch noch mal, ob er uns vielleicht noch hört? - Ich habe das Regiesignal, dass Carlo Strenger, Professor für Psychologie und Philosophie an der Tel Aviver Uni, uns leider aus der Leitung verschwunden ist.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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