Am Anfang stand ein Medienskandal

Als Anästhesie-Oberärztin Ruth Gattiker am Morgen das Kantonsspital Zürich betritt, ahnt sie noch nicht, dass dieser Montag, der 14. April 1969, ein historischer Tag werden würde. Doch dann passiert alles «tätschpum», wie sie sich später erinnert. Um 8.50 Uhr meldet die Unfallchirurgie einen allfälligen Nierenspender auf ihrer Abteilung. Bereits eine Viertelstunde später wird klar, dass der hirntote Patient wegen seines Alters und der Blutgruppe auch als Herzspender infrage kommt. Der herzkranke Empfänger, der bereits seit vier Monaten vorgemerkt ist, wird zu Hause angerufen und aufgefordert, schnellstmöglich per Taxi ins Spital zu kommen.

9.15 Uhr, der Chef der Neurochirurgie gibt die Einwilligung, das Herz des Spenders zu entnehmen. Erst jetzt erfährt Ruth Gattiker von der bevorstehenden Transplantation und muss in kürzester Zeit Operationsteams für Empfänger und Spender zusammenstellen. 12.30 Uhr, Beginn der Organübertragung: Nachdem die Ärzte das Herz des Spenders freigelegt haben, öffnen sie den Brustkorb des Empfängers und kühlen ihn künstlich ab. Um 13.18 Uhr tritt der Herzstillstand ein und eine Herz-Lungen-Maschine übernimmt den Kreislauf. Die eigentliche Transplantation dauert weniger als eine Stunde. Um 14.06 Uhr beginnt das übertragene Herz ohne elektrische Stimulation von selbst zu schlagen.

Den Ablauf und die Umstände der ersten Schweizer Herztransplantation hat die Historikerin Yvonne Eckert in ihrer Arbeit «If you fail, try again. Fail better» beschrieben. Es handelt sich zwar nicht um die erste Organverpflanzung hierzulande. Doch es ist das erste Mal, dass es zu einer breiten und kritischen Diskussion über die Transplantationsmedizin in der Öffentlichkeit kommt – fünf Jahre nach den ersten Nierenverpflanzungen, die das Unispital Zürich (USZ) jetzt zum Anlass für ein 50-Jahr-Jubiläum nimmt.

Das Verhängnis bahnt sich an

Die erste Schweizer Herztransplantation steht unter der Leitung von Åke Senning. Der im Jahr 2000 verstorbene schwedische Starchirurg machte sich am Karolinska-Krankenhaus in Stockholm einen Namen – etwa mit der Entwicklung des ersten implantierbaren Herzschrittmachers. Ab 1961 wird Senning Klinikdirektor am Kantonsspital Zürich (heute Universitätsspital) und baut dort eine Herzchirurgie mit Weltruf auf. Er transplantiert hier nicht nur das erste Herz, sondern auch die ersten Nieren. Viele seiner Kollegen und Schüler verehren ihn. Felix Largiadèr, ab 1985 USZ-Klinikdirektor für Viszeralchirurgie, beschreibt ihn als «begnadeten Chirurgen und Operateur», der auch ausserhalb des Operationssaals seinen Charme entfaltet: «Seine hohe, elegante Gestalt mit einem fremdländischen Touch machte ihn zum Star in der Fakultät und in Gesellschaftskreisen.»

Nach der erfolgreich durchgeführten Herztransplantation an diesem 14. April 1969 bahnt sich das Verhängnis bereits im Operationssaal an: Urs Bürgi, Gesundheitsdirektor des Kantons Zürich, ist im Verlauf der Operation unbemerkt dazugestossen und kündet nun für 17 Uhr eine Pressekonferenz an. Zwei Jahre nach der weltweit ersten Herztransplantation ist das Interesse der Schweizer Medien riesig. Im Laufe der Konferenz jedoch erfahren die Journalisten nebenbei, dass die Ärzte die Eltern des Organspenders weder gefragt noch informiert hatten. Bürgi betont jedoch, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei, und gibt an, die Ärzte könnten sich auf das Spitalreglement von 1890 stützen. Demnach darf «jeder Patient der im Zürcher Kantons­spital stirbt, der Sektion zugeführt werden. Die Obduktion und Untersuchung der Leichen sollen der Wissenschaft und dem medizinischen Fortschritt dienen.»

Der Aspekt der Organspende interessiert die Medien anfangs offensichtlich nicht so sehr. In der anschliessenden Berichterstattung herrscht fast grosse Bewunderung für die Pioniertat vor. Die Zürcher Verpflanzung ist weltweit die 126. Herztransplantation, und man ist stolz, zu den Ländern zu gehören, die Herzen transplantieren.

Das ändert sich schlagartig, als am Tag nach der Transplantation die eigentlich unter Verschluss gehaltenen Namen von Spender und Empfänger doch bekannt werden. Ein von Åke Senning nach Zürich eingeladener schwedischer Journalist hatte die Namen erfahren und in einer schwedischen Zeitung veröffentlicht. Organempfänger war der 54-jährige Emil Hofmann. Beim Spender handelt es sich um den 27-jährigen Privatdetektiv Albert Gautschi. Er fiel vier Tage vor der Transplantation bei der Arbeit durch ein Glasdach des Restaurants Metzg in Lachen und wurde schwer verletzt in das örtliche Spital und schliesslich ans Zürcher Kantonsspital gebracht.

«Das Herz gestohlen»

Der «Blick» macht die Eltern des Spenders ausfindig und lässt sie unter dem Titel «Man hat meinem Bub das Herz gestohlen!» zu Wort kommen. Sie hatten ihren Sohn noch am Tag vor der Transplantation besucht und wurden kurz nach der Operation am Montagnachmittag über dessen Tod informiert. Von der Organentnahme erfuhren sie erst später durch die Medien. Im «Blick»-Artikel kritisieren die Eltern das Vorgehen der Ärzte. «Ich kann die Sache nicht auf sich beruhen lassen, sonst werden demnächst noch Leute von der Strasse geholt zur Herztransplantation», sagt der Vater. Die Eltern betonen jedoch, dass sie die Einwilligung gegeben hätten, falls man sie gefragt hätte. In der Folge kommt es zu mehrjährigen juristischen Auseinandersetzungen, an deren Ende das Bundesgericht festhält, dass alles den Vorschriften entsprochen habe.

«Der Konflikt dreht sich letztlich um das Selbstverständnis der Ärzte, welches damals viel autoritärer und paternalistischer war als heute», sagt Historiker ­Simon Hofmann, der ausgehend von den Wirren um die Transplantation seine ­Dissertation zur Geschichte der Organspende in der Schweiz verfasst hat. Er glaubt, dass sich eine paternalistische Haltung gerade bei der Organtransplantation rächen kann: «Das Vertrauen in die ärztliche Autorität kann hier schnell in Misstrauen umschlagen.» Aus Sicht von Hofmann sollten aus dem Medienskandal um die erste Herztransplantation Lehren gezogen werden. Er ist skeptisch gegenüber heutigen Bestrebungen, bei der Organspende einen Systemwechsel zu vollziehen. Der Wunsch ist, die heutige Zustimmungslösung durch die Widerspruchslösung zu ersetzen. Dadurch würde jeder zu einem potenziellen Spender, solange er dies nicht ausdrücklich ablehnt. «Es besteht die Gefahr, dass diese Effizienzsteigerung der Organtransplantation auf Kosten des Vertrauens geschieht – der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass dies sehr heikel ist.»

Herztransplantationen gestoppt

Auch Senning zieht seine Lehren aus seiner Herztransplantation. Er führt zwar nach wenigen Monaten eine zweite durch. Doch danach ist Schluss, zu gross sind die Probleme mit der Organabstossung. Das Risiko eines Misslingens liegt in dieser Anfangszeit bei 90 bis 95 Prozent. Der erste Schweizer Herzempfänger, Emil Hofmann, überlebt nur wenige Wochen, ohne das Spital je verlassen zu haben. Der zweite Patient stirbt nach drei Monaten überraschend zu Hause.

Auf der ganzen Welt stoppen die Ärzte zu dem Zeitpunkt ihre Herztransplantationen. Erst als mit der Entwicklung neuer Medikamente gegen die Abstossung die Erfolgschancen deutlich steigen, beginnen sie wieder mit den prestigeträchtigen Operationen. Auch in Zürich, wo 1985 Senning-Nachfolger Marko Turina das erste Herztransplantationsprogramm der Schweiz startet.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 18.12.2014, 20:29 Uhr)

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