„Als hätten sie nie existiert“

Cecília Maria Bouças Coimbra ist eine ehemalige Geschichtslehrerin und Professorin für Psychologie an der Universidade Federal Fluminense in Rios Satellitenstadt Niterói. Sie und ihr Mann wurden im August 1970 festgenommen, weil sie Mitglieder der Revolutionären Bewegung 8. Oktober (MR-8) unterstützten, die den bewaffneten Kampf gegen das seit 1964 herrschende Militärregime aufgenommen hatten. In einem Verlies der berüchtigten DOI-Codis, Koordinationsstellen des militärischen Nachrichtendienstes und der zivilen Polizei, wurde sie drei Monate hindurch gefoltert, ebenso ihr Mann – in ihrem Beisein, ein Erlebnis, das sie über Jahre verfolgen sollte – und ihre drei Geschwister. Sie litt auch unter der Behauptung der Folterer, dass ihre Mutter verhaftet und ihr dreijähriger Sohn dem Jugendamt übergeben worden sei. Von ihrer Freilassung, 1971, bis zur Verkündung der Amnestie, 1979, hatte sie Berufsverbot. Diese Zeit ist ihr infolge der durchdringenden Angst als besonders schrecklich in Erinnerung geblieben: „Ich wurde von meinen früheren Freunden wie die Pest gemieden. Sie wechselten die Straßenseite, um mich nur ja nicht grüßen zu müssen. Ich wollte weg von hier, aber mein Mann war dagegen.“

Im Gegensatz zum Nachbarland Argentinien, wo im Wochenrhythmus Repressoren der Militärjunta zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt werden, ist in Brasilien bis heute kein einziges Gerichtsverfahren gegen Handlanger oder Repräsentanten der Diktatur eröffnet worden. Geht es nach dem Willen der Medienkonzerne, der meisten Abgeordneten und der Stimmung unter der Bevölkerung, dann soll es auch in Zukunft so bleiben. Allerdings hat nach Zustimmung der Abgeordnetenkammer Ende Oktober auch der Senat der Einrichtung einer Wahrheitskommission zugestimmt, mit der – nach Darstellung der Staatspräsidentin Dilma Rousseff, die selbst verfolgt und gefoltert worden ist – die während der Diktatur begangenen Verbrechen erstmals umfassend untersucht werden sollen.

Cecília, wann und unter welchen Umständen ist „Tortura Nunca Mais“ entstanden?

Offiziell im Oktober 1985, nach einem großen Treffen von Menschenrechtsaktivisten. Schon zwei Jahre früher, noch während der Diktatur, hatten in São Paulo und Rio de Janeiro zwei oppositionelle Parteien die Wahlen gewonnen, in São Paulo die PMDM und in Rio die PDT von Leonel Brizola. 1985 gelang es ihnen, Unterlagen aus den Archiven der DOPS, der Politischen Polizei, zu sichten. Dabei stellte sich heraus, dass diese unvollständig waren – die Militärs hatten sie rechtzeitig gesäubert. Und im selben Jahr gab der Stadtrat für Verkehrswesen in der Regierung Brizola, ein ehemaliger politischer Gefangener namens Brandão Monteiro, gegenüber der Presse bekannt, dass einer seiner Amtskollegen einen Mann zum Chef der Feuerwehr ernannt hatte, in dem er seinen Folterer wiedererkannte. Aufgrund dieser Meldung kam es zu spontanen Protesten.

Wir entdeckten, dass noch weitere Repressoren Posten in der Stadtregierung Brizola bekleideten. So fingen wir an, uns zu organisieren: ehemalige Häftlinge, Angehörige von Ermordeten und Verschwundenen der bis dahin herrschenden Diktatur, die wir bewusst als Ditadura Civil-Militar bezeichnen, um auf die Komplizenschaft von Industriellen hinzuweisen. Die Kollaboration von Unternehmern mit dem staatlichen Terrorismus ist typisch für Brasilien. Ich nenne nur die Ladenkette Pão de Açucar, deren Eigentümer sich mittels der Diktatur bereichert haben, den Zeitungsverlag Folha de São Paulo, der seine Lastautos für den Gefangenentransport zur Verfügung gestellt hat, und den Präsidenten von Ultragás, Henning Albert Boilensen, der an Folterungen mit Elektroschock teilgenommen hat.

Wir von „Tortura Nunca Mais“ treffen uns nach wie vor einmal die Woche, wir beschäftigen Psychologen, Psychiater und Physiotherapeuten zur Aufarbeitung von Folgeschäden der Folter, wir stehen in Kontakt mit anderen sozialen Organisationen in São Paulo, Pernambuco, Paraná, Minas Gerais und Goiás, aber es gibt keine übergeordnete Stelle, die unsere Aktivitäten koordinieren würde.

Als Außenstehender gewinnt man den Eindruck, dass die Zeit der Diktatur – immerhin ein Zeitraum von 21 Jahren – in der brasilianischen Öffentlichkeit, aber auch im privaten Bereich selten zur Sprache kommt. Und wenn, dann nur als Hintergrund für kulturelle, von der Politik abgekoppelte Phänomene. Widerstand und Verfolgung werden kaum thematisiert.

Was uns natürlich zu schaffen macht. Es ist ja auch kein Zufall, dass erst 1995, also mehr als zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur, ein Gesetz verabschiedet wurde, das zum ersten Mal die Toten und Verschwundenen der Repression juristisch erfasst hat. Indem es die Verschwundenen für tot erklärt, löst es das Problem der Hinterlassenschaften. Aber es lässt den Todesort, die Todesursache und die Frage nach den Verantwortlichen außer Acht. Pervers an diesem Gesetz ist die Tatsache, dass es die Angehörigen nötigt, Beweise dafür zu erbringen, dass die Ermordeten sich in Obhut von Regierungsstellen befunden haben. Aber der Zugang zu Archiven bleibt ihnen verwehrt, mit Ausnahme des schon erwähnten DOPS. Über die alten Mitglieder der Kommunistischen Partei Brasiliens aus der Zeit der Vargas-Diktatur zum Beispiel sind nirgendwo Karteikarten zu finden. Als hätten sie nie existiert.

Sah dieses Gesetz aus der Regierungszeit von Fernando Henrique Cardoso auch eine Entschädigung der Hinterbliebenen vor?

Ja, wobei wir gegen das Vorgehen der Regierung waren, die Entschädigung als juristischen Schlusspunkt anzusehen. Sie ersetzt sozusagen die Nachforschung, die Aufklärung und die Zuschreibung von Verantwortung über die begangenen Verbrechen.

Das weiterhin gültige Amnestiegesetz von 1979 schließt die strafrechtliche Verfolgung der während der Diktatur begangenen Verbrechen aus. Müsste es demnach nicht aufgehoben werden, damit die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Diktatur und ihren Folgen geführt werden kann?

Wir wollen kein anderes Gesetz, wir wollen eine andere Auslegung dieses Gesetzes. Denn es enthält in einem kleinen Absatz die Bestimmung, derzufolge ein Verbrechen nicht zu ahnden ist, wenn es in einem Kausalzusammenhang mit einem anderen Verbrechen steht. Militärs, die einen Menschen zu Tode gefoltert haben, der zuvor eine Bank überfallen hatte, fallen demnach unter die Amnestiebestimmungen. Unsere Gruppe hat diese Auslegung immer bekämpft. Längst haben sich auch zwei angesehene Juristen in einem Gutachten dagegen ausgesprochen.

Und Ende vergangenen Jahres hat der Gerichtshof für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten diese Gesetzesauslegung für unzulässig erklärt, und zwar in Zusammenhang mit einer gegen Brasilien eingebrachten Klage, infolge der Vernichtung der sogenannten Guerrilla de Araguaia Anfang bis Mitte der Siebzigerjahre: Es geht um 60 Aktivisten einer maoistischen Abspaltung der Kommunistischen Partei, die in Paraná eine Guerillabewegung initiierten. Sie waren noch mit deren Aufbau beschäftigt, als sie grausam ermordet wurden. Ihre abgehackten Hände und Köpfe wurden zur Identifizierung in die Hauptstadt Brasília geschickt. Es gab fünf Überlebende, die zum Zeitpunkt des Massakers bereits aufgegeben hatten. Einer von ihnen ist der Abgeordnete José Genoíno, der engste Berater der Verteidigungsministerin für den Umgang mit den Militärs. Aufgrund seiner Vergangenheit ist er all denen ein sehr brauchbares Instrument, die die Geschichte des Landes nur bis zu einem bestimmten Punkt erzählen wollen.

Aber zurück zum Interamerikanischen Gerichtshof der OAS: In seinem Urteil hat er den brasilianischen Staat für das Verschwindenlassen der Untergrundkämpfer verantwortlich gemacht. Besonders wichtig ist die Bestimmung, dass alle Fälle von Toten und Verschwundenen gerichtlich untersucht und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden müssen. Das Urteil ist über den konkreten Fall hinaus gültig. Es behauptet, dass keine Amnestie die Aufklärung und die Beurteilung der Verantwortung für solche Verbrechen verhindern kann. Das steht in schroffem Gegensatz zu den Auffassungen aller bisherigen Regierungen Brasiliens. Noch im August des Vorjahres hatte der Oberste Gerichtshof bekräftigt, dass die Folterer durch das Amnestiegesetz immun seien.

Die nationalen Regierungen haben ein Jahr Zeit, um den Verurteilungen durch den Interamerikanischen Gerichtshof Rechnung zu tragen.

Und deshalb hat die Regierung Dilma Rousseff jetzt auch das Projekt der Wahrheitskommission durchgezogen. Sie will zeigen: Wir sind dabei, die Fälle aufzuarbeiten.

Wie beurteilen Sie die Kommission auf Grundlage dessen, was bisher über ihre zukünftige Arbeit bekannt geworden ist?

Wir halten sie für absolut unzulänglich. Aber wir sind eine Minderheit. Die meisten ehemaligen Gefangenen und die Angehörigen halten diese Kommission zwar hinsichtlich ihrer Tätigkeit für sehr eingeschränkt, aber für brauchbar innerhalb dessen, was heute eben möglich ist. Wir von „Tortura Nunca Mais“ nennen sie ironisch die Kommission des Möglichen.

Was sind ihre Unzulänglichkeiten?

Dass sie nicht legitimiert ist, Recht zu sprechen. Dass sie ihre Ergebnisse nicht schriftlich vorlegen wird, weil die Anhörungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen. Dass der Zeitraum, mit dem die Kommission befasst ist, die Jahre von 1946 bis 1988 umfasst. Das heißt, die zivil-militärische Diktatur wird als klar einzuordnende Epoche für die neuen Generationen ausgelöscht. Das nationale Gedächtnis wird nicht respektiert, das ist sehr schlimm. Dazu kommt noch, dass die Kommission aus nur sieben Mitgliedern besteht, die von der Regierung ernannt werden.

Unparteiische, den Bestimmungen zufolge.

Menschen, die sich im Untersuchungszeitraum gesellschaftlich betätigt haben, werden demnach nicht akzeptiert. Aber Neutralität ist in einer Diktatur gar nicht möglich. Wer nicht dagegen ist, macht mit. Außerdem verfügt die Kommission über keine Infrastruktur und soll ihr Endergebnis in nur zwei Jahren vorlegen – ohne Eigenmittel und personell unterbesetzt.

Trotzdem wird sie in der medial vermittelten Öffentlichkeit für gefährlich erachtet, nach dem Motto: „Man soll die Vergangenheit ruhen lassen.“

Fragen bezüglich der Diktatur haben in diesem Land immer nur eine Minderheit beschäftigt. Die brasilianische Gesellschaft ist im Gegensatz zur argentinischen dafür nicht zu mobilisieren. Die Leute begreifen nicht, dass die Wirkungen der Diktatur bis heute fortbestehen. Dass die herrschende Gewalt viel mit den Vorrichtungen zu tun hat, die die Diktatur erfunden und exportiert hat und die im Kampf gegen die Armen gegenwärtig ist. Zum Beispiel immer mehr das Verschwindenlassen von Personen. Nach Schätzungen eines Bundesstaatsanwalts sind allein in Rio in den vergangenen fünf Jahren an die 10.000 Menschen verschwunden – also ermordet und ihre Leichen beseitigt worden.

Oder denken wir an die Hinrichtungen, die als „autos de resistência“ getarnt werden, als Notwehrakte von Polizisten. Sie sind in Brasilien weit verbreitet. Und sie sind ein Erbe der Diktatur. Ihrer Straflosigkeit und der Tatsache, dass sie bis heute nicht untersucht worden ist. Ich zum Beispiel kenne nach wie vor nicht die Einzelheiten meiner Verhaftung. Und das trifft nicht nur auf die verschwundenen und überlebenden Gefangenen zu, sondern auf die gesamte brasilianische Gesellschaft. Keine einzige Regierung von 1985 bis heute hat den politischen Willen aufgebracht, diese Verbrechen aufzuklären. Wir verlangen, dass die Täter bekannt gegeben werden. Wir sind gegen lebenslange Freiheitsstrafen. Andernfalls würden wir einer reinen Kultur der Rache das Wort reden. Wir wollen keine Viktimisierung.

Heißt das, dass Sie auf Bestrafung der Schuldigen keinen Wert legen?

Über die Verantwortlichen muss Recht gesprochen werden. Aber es geht uns nicht um Bestrafen. Viel wichtiger ist, dass ihre Verbrechen der Gesellschaft bekannt werden. 1993 oder 1994 fielen uns in São Paulo und Rio Papiere mit den Namen von Gerichtsmedizinern in die Hände, die falsche Atteste über die Todesursache von Oppositionellen ausgestellt hatten. Sie legalisierten die Morde durch Angaben wie: Selbstmord, Verkehrsunfall, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Als ich diese Fälle öffentlich machte, wurde ich von einem Journalisten angegangen. Er sagte, er sei mit zwei Frauen befreundet, die ihrerseits Töchter zweier beschuldigter Ärzte seien und sehr unter den Beschuldigungen litten. Wie könnte ich es verantworten, so viel Leid über sie zu bringen. Dabei hatten diese Ärzte mit ihren falschen Angaben die Folter legitimiert. So gering ist das Unrechtsbewusstsein der brasilianischen Gesellschaft!

Das Schweigen über die Verbrechen macht sie krank, indem es das Empfinden ethischer Verantwortlichkeit außer Kraft setzt. Deshalb ist die soziale Abrechnung mit den Verbrechen der Diktatur so viel wichtiger als eine strafrechtliche Verfolgung. Und weil ich auch von meinen Gefährten sprechen will, Repräsentanten einer ganzen Generation, die für die Utopie einer gerechteren Gesellschaft ihr Leben hingab. Es ist wichtig, dass man von diesen Menschen erfährt.

Die offenbar eine große Minderheit darstellen, jedenfalls im Vergleich mit der Zahl der Verschwundenen in Argentinien und anderen Nachbarstaaten.

Das stimmt, weil in Brasilien die Repression besonders selektiv gehandhabt wurde. Laut offiziellen Angaben sind 144 Personen verschwunden. Wir behaupten, die Liste ist unvollständig, weil das Verschwinden armer Menschen von ihren Familien nicht oder kaum zur Anzeige gebracht wurde. Unseren Schätzungen zufolge sind rund 500 Oppositionelle von Parteigängern der Diktatur ermordet worden. Nicht nur die Gerichtsmediziner, auch die zu den Folterungen beigezogenen Ärzte wurden übrigens von Überlebenden angezeigt. Entweder waren sie auf der Straße erkannt worden, oder sie hatten darauf vergessen, bei den Torturen ihre Namensschilder abzulegen. In Rio ist von 44 zur Anzeige gebrachten Ärzten acht, in São Paulo von 62 vier deswegen die Berufserlaubnis entzogen worden. Brasilien ist damit das einzige Land des Kontinents, in dem es möglich war, gegen Ärzte und Psychologen vorzugehen, die sich an den Verbrechen beteiligt haben. Das ist immerhin etwas. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2011)

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