AG Dok kritisiert ARD und ZDF: Notfalls wird eben geklaut

Berlin - Als Filmemacher sollte man über viele Talenten verfügen. Bisher genügte es allerdings, eine Vision zu haben sowie gewisse Kenntnisse in den Bereichen Betriebswirtschaft (wegen der Finanzen) und Psychologie (wegen der Mitarbeiterführung) mitzubringen. Mehr und mehr sind mittlerweile aber auch juristische Kenntnisse gefragt. Denn Dokumentarfilmer dürfen mitnichten alles filmen, was ihnen vor die Kamera kommt. Zufällige Passanten können auf ihren Persönlichkeitsrechten beharren; im Zweifelsfall müssen ihre Gesichter im Film digital verfremdet werden. Noch brisanter ist die ungewollte Verwendung von Musik. Wird ein Lied ganz bewusst in einem Film eingesetzt, um eine bestimmte Stimmung zu vermitteln, versteht es sich von selbst, dass die Rechte abgegolten werden. Kaum jemand weiß, dass dies auch für Musik gilt, die zufällig aufgenommen wird. „Wenn bei Dreharbeiten auf einem Rummelplatz irgendwo Musik läuft, muss sie aus dem fertigen Film entfernt werden, weil man sonst mit gigantischen Forderungen der Musikindustrie rechnen muss“, erläutert Thomas Frickel, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm. Weil gerade der öffentliche Raum gewissermaßen eine Grauzone ist, plädiert die AG Dok daher gemeinsam mit den Journalistenverbänden für eine „Panoramafreiheit“: „Bilder und Töne aus dem öffentlichen Raum sollten kostenfrei verwendet werden dürfen.“

Zu dem Themenkomplex gehört auch der Umgang mit sogenanntem Klammermaterial. Der Begriff bezieht sich auf die Unmenge an dokumentarischen Aufnahmen, die in den Archiven von ARD und ZDF lagern. Wann immer Dokumentarfilmer Porträts von Menschen der Zeitgeschichte drehen wollen, sind sie auf Archive angewiesen. Gleiches gilt für praktisch alle nur denkbaren Ereignisse der letzten fünfzig Jahre; so lange gibt es Magnetaufzeichnungen. Erste Adresse für Recherchen sind dank ihrer lückenlosen Berichterstattung in der Regel die ARD-Sender und das ZDF. Dort ist man auch gern zur Kooperation bereit, allerdings nicht zum Nulltarif. Entsteht ein Film fürs eigene Haus, muss ein Autor nichts zahlen, und auch der kleine Dienstweg innerhalb der beiden öffentlich-rechtlichen Systeme kostet nur eine Bearbeitungsgebühr. Arbeitet ein Autor allerdings auf eigene Rechnung, kann es richtig teuer werden. Frickel spricht von 4500 Euro – pro Minute.

„Ausländische Archive sind oft billiger“

Ganz so viel ist es zwar nicht, wie Sprecher der verschiedenen Sender beteuern, aber man kann sich vorstellen, warum die AG Dok beklagt, bestimmte Filme kämen allein aufgrund der enormen Kosten für das Archivmaterial nicht zustande. Und es handelt sich keineswegs um Einzelfälle. Lutz Hachmeister, preisgekrönter Autor und Regisseur von Filmen über Joe McCarthy („The Real American“) und Hanns Martin Schleyer („Schleyer – Eine deutsche Geschichte“), bestätigt Frickels Vorwurf. Die Preise, die beispielsweise die ZDF-Tochter ZDF Enterprises für Archivmaterial verlange, lägen sogar noch über dem üblichen Preisgefüge: „Ausländische Archive sind oft billiger.“ ZDF-Sprecher Alexander Stock rechtfertigt diese Praxis mit dem Hinweis auf den Rundfunkstaatsvertrag und das europäische Recht: Das ZDF sei sogar verpflichtet, sich marktwirtschaftlich zu verhalten. Wenn ein Marktteilnehmer „Leistungen des ZDF in Anspruch nehmen will, muss er dafür bezahlen“.

In ihrer Verzweiflung greifen Autoren nicht zu selten zu einem Mittel, das sie selbst immer wieder beklagen: Sie klauen, was sie sich nicht leisten können. Die Mediatheken ausländischer Sender sind ein beliebter Fundus. Das Risiko, erwischt zu werden, ist überschaubar, aber das macht die Sache natürlich nicht besser. Die AG Dok plädiert laut Frickel daher „für ein erweitertes Zitatrecht, das die Verwendung von Klammermaterial in einem bestimmten Rahmen erlaubt.“

„ARD und ZDF nutzen ihre marktbeherrschende Position aus“

Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Der AG-Dok-Geschäftsführer ärgert sich vor allem darüber, dass die Sender für Archivmaterial „deutlich höhere Minutenpreise verlangen, als sie für neue Produktionen zahlen. Die Urheber werden an diesen Geschäften ohnehin nicht beteiligt. Stattdessen wird von ihnen erwartet, dass sie die Rechte kostenlos abtreten. Aber wenn sie selbst auf dieses Material zurückgreifen wollen, wird das zurückgewiesen. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Hier nutzen auch öffentlich-rechtliche Sender ziemlich schamlos ihre marktbeherrschende Situation aus.“

Die faire Verteilung der Verwertungsrechte ist gewissermaßen ein Klassiker in den Verhandlungen zwischen ARD, ZDF und der AG Dok. Jeder Film, beschwert sich Frickel, „der ohne Vergütung in öffentlich-rechtliche Mediatheken eingestellt wird, ist ein Gewinn für die Sender und ein Verlust für die Produktionswirtschaft“. Zugespitzt formuliert er: „Alle illegalen Downloads haben der deutschen Dokumentarfilmbranche materiell weniger geschadet als die Vertragspraxis von ARD und ZDF an einem einzigen Tag.“ Die Arbeitsgemeinschaft wirft ARD und ZDF daher „Piratenmentalität“ vor und hat dies auch in einem Schreiben an die Staatskanzleien deutlich gemacht: Die von den beiden Senderketten mit Hilfe ihrer Marktmacht durchgesetzten Vertragsbedingungen im Dokumentarfilmbereich seien „nach wie vor weder fair noch angemessen“.

Auch diesen Vorwurf weisen ARD und ZDF zurück. ARD-Sprecher Stefan Wirtz betont, „in den substanziellen Fragen“ herrsche mit der AG Dok Konsens. „Die Kritik entbehrt jeder Grundlage“, findet auch ZDF-Sprecher Stock. Die Unterstellung, der öffentlich-rechtliche Rundfunk verursache der Dokumentarfilmbranche wirtschaftliche Schäden, stelle „die Fakten auf den Kopf“: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei maßgeblicher Auftraggeber und garantiere den Bestand des Dokumentarfilms in Deutschland. „Die AG Dok muss sich fragen lassen, wen sie vertritt.“

Leave a Reply