ADHS – Medizin, Psychologie und Pädagogik sind gefordert – AK-Kurier

ADHS – Medizin, Psychologie und Pädagogik sind gefordert

„Wir müssen ADHS als Symptomkomplex mit unterschiedlichen Hintergründen verstehen“,
fasste Fritz Haverkamp den Forschungsstand zu psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen zusammen. Foto: Thorsten Ladda

Altenkirchen. Schon die enorme Teilnehmerzahl zeigte die hohe Aktualität des Themas. Unter der Überschrift „Neue Morbidität: Kontroversen und Zukunftsperspektiven“ gab Fritz Haverkamp, Facharzt für Kinder und Jugendmedizin und Professor an der Evangelischen Fachhochschule Bochum, vor 160 Zuhörern einen Überblick über den Forschungsstand zu psychischen Auffälligkeiten wie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen.

Zuvor hatten die Netzwerkkoordinatoren Melanie Sühnhold und Mark Schneider sowie der Kreisbeigeordnete Klaus Schneider, zuständig für den Geschäftsbereich Jugend und Familie, die Teilnehmer aus den Bereichen Jugendhilfe, Kitas, Schulen, Gesundheitshilfe, Polizei, Amtsgerichte und Beratungsstellen begrüßt.

Wie kommt es zur vermehrten Diagnose psychischer Störungen und zum rasanten Anstieg bei der Verschreibung von Medikamenten wie Ritalin? Liegt hier tatsächlich eine Zunahme von Krankheitsfällen vor oder wird versucht, ein vielschichtiges, gesellschaftliches Phänomen mit den Mitteln der Medizin zu kurieren? Schon bei der Diagnose zeigen sich laut Haverkamp die ersten Schwierigkeiten, zum Beispiel bei der Abgrenzung zwischen normal und krank. „Eigentlich ist es ganz normal, dass ein Kind Stärken und Schwächen hat. Deshalb gehören Anstrengungen und Frustrationen zur Entwicklung dazu. Letztlich sind es auch die Erwartungen an unsere Kinder, die sich verändert haben", erklärte der Wissenschaftler.

Die Medizin müsse sich an dieser Stelle die Frage stellen, ob sie eine Erkrankung behandele oder eine eigentlich normale Leistungsschwäche therapiere, also letztlich „Doping“ betreibe. Dabei seien die biologischen Faktoren, die bei den Auffälligkeiten eine Rolle spielten, nur ein Teil des Gesamtzusammenhangs. Es spreche vieles dafür, dass auch die individuellen Lebensumstände, der Beziehungs- und Erziehungsstil der Eltern aber auch Faktoren wie Wohnqualität und Medienkonsum Auswirkungen auf die Krankheitshäufigkeit haben, führte Haverkamp weiter aus.

Wie groß der Einfluss des sozialen Status darauf tatsächlich ist, belegt eine Studie aus den USA. Demnach entwickelt praktisch jeder dritte Junge, der bei einem alleinerziehenden Elternteil in Armut aufwächst, eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Der Bildungsstand des Elternteils spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Das alles macht das Phänomen ADHS hochkomplex. Zu komplex für eine klare Antwort auf die Eingangsfrage nach Normalität oder Krankheit. Das zeigte sich auch in der anschließenden Diskussion. Hier wurde von den Teilnehmern besonders das familiäre Umfeld der betroffenen Kinder und der von Eltern zum Teil nach wie vor unterschätzte Einfluss des Medienkonsums herausgestellt. „Warum kann man nicht eine klare Empfehlung zum Medienkonsum bei allen Kinderärzten aushängen?“, gab eine Zuhörerin einen leicht umzusetzenden Hinweis. Eine gute Idee, fand Haverkamp.

Für den Bochumer Professor liegen Verbesserungschancen insbesondere in einer umfassenden Diagnostik, in einer neuen internationalen Klassifikation, in modernen Präventionsmaßnahmen und in der Kooperation von Medizin, Psychologie und Pädagogik.

Letzteres unterstrichen auch die Netzwerkkoordinatoren Melanie Sühnhold und Mark Schneider in ihrem Fazit zur Veranstaltung: „Auf die gesellschaftlichen Herausforderungen kann nicht eine Disziplin alleine antworten, es muss interdisziplinär – also medizinisch, pädagogisch und therapeutisch – gearbeitet werden. Dabei ist nicht jede vermeintliche Auffälligkeit behandlungsbedürftig oder „unnormal“, so Sühnhold und Schneider.

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