Mit Hilfe moderner neurobiologischer Methoden hat man den Deckel der Kiste einen Spalt breit anheben können. Und durch diesen Spalt kann man beobachten, wie wir aus Überraschungen lernen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den Nervenzellen im Mittelhirn zu, die bei Aktivität Dopamin ausschütten. Dopamin ist ein Botenstoff, der Signale von Nervenzelle zu Nervenzelle über sogenannte Synapsen überträgt. Darüber hinaus kann die Anwesenheit von Dopamin bei gleichzeitiger Aktivität an einer Synapse die Verbindungen zwischen den Nervenzellen stärken. Damit wird ein Reiz mit dem Resultat einer Handlung verknüpft. Ein wichtiger Befund bezüglich der Dopamin erzeugenden Nervenzellen im Mittelhirn ist die Entdeckung, dass diese Zellen immer dann besonders aktiv sind, wenn es eine positive Abweichung von der Erwartung gibt. Man könnte auch sagen, wenn unser Gehirn überrascht ist, wird Dopamin freigesetzt. Durch das entstehende Dopamin-Signal werden dann all jene neuronalen Verbindungen gestärkt, die vor kurzem aktiv waren. Dies sind vor allem Verbindungen im Striatum, einer Region im Großhirn, die steuert, welche Handlung aus einer Vielzahl von verfügbaren Optionen ausgeführt werden soll. Als Konsequenz lernen wir aus überraschenden Ereignissen und können zunächst unbekannte Zusammenhänge erkennen und neuronal kodieren.
Das Wissen über die Verbindung von Dopamin und Lernmechanismen ist von enormer Bedeutung für unser Verständnis von neurologischen Krankheiten, die mit einer Störung in diesem System einhergehen. Bei Parkinsonpatienten beispielsweise findet ein Abfall der Produktion von Dopamin durch ein Absterben von Neuronen im Mittelhirn statt. Passend zu den beschriebenen Ergebnissen zeigen sich bei Patienten neben motorischen Eingeschränktheiten auch Defizite in Lernaufgaben. Durch ein detailliertes Verständnis der ablaufenden neurologischen Prozesse besteht die Hoffnung auf neue Therapieformen, die gezielter als bisher die neurologischen Mechanismen einbeziehen können.
Die Ergebnisse zeigen aber auch wie schmal der Spalt der Kiste ist, durch den Neurowissenschaftler in das Gehirn hineinblicken. Es hat zwei Jahrzehnte gedauert, einen neuronalen Mechanismus für Reiz-Antwort-Lernen zu großen Teilen, jedoch immer noch nicht vollständig zu entschlüsseln. Dies war nur möglich durch die Kombination von mathematischen Modellen, bildgebenden Verfahren wie Magnetresonanztomografie (MRT) und elektrophysiologischen Methoden, die auch invasive Verfahren bei Tieren mit einschließen.
Die Identifikation von solchen generellen, vermutlich bei allen Wirbeltieren vorhandenen Lernmechanismen, bildet die Grundlage, um die Funktionsweise unseres Gehirns zu verstehen. Davon weitgehend unberührt sind aber Erklärungsmodelle, die dazu dienen, die Lücke zwischen uns und unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, zu füllen. Wie kann die neurowissenschaftliche Forschung dazu beitragen, Erkenntnis über ureigenste menschliche Charakteristika wie Empathie, Sprache oder Kultur zu erlangen? Die Suggestionskraft der plakativen Abbildungen mit farbigen Aktivierungszentren im Gehirn ist enorm und bietet viel Raum für Spekulation zu bisher philosophisch geprägten Forschungsthemen wie der Frage nach dem freien Willen. Hier wird es weiter teils überlegte, teils steile Thesen geben, die einer klugen Entgegnung harren. Schlussendlich wird nur die Kombination einer Vielzahl von Ergebnissen aus unterschiedlichen Disziplinen uns noch tiefere Einblicke in die Funktionsweise speziell des menschlichen Gehirns erlauben. Dies erfordert eine Zusammenarbeit über die klassischen Grenzen von Disziplinen und Fakultäten. Ein Beispiel für ein solches interdisziplinäres Zentrum ist die Berlin School of Mind and Brain an der Humboldt- Universität, wo der Blick über den Tellerrand fester Bestandteil der Ausbildung ist. Die Doktoranden, die hier forschen, werden noch ein Stück tiefer in die unergründliche Kiste hineinblicken und dabei sicher auf einige Überraschungen stoßen. Ulf Tölch
Der Autor forscht an der Exzellenz-Graduiertenschule Berlin School of Mind and Brain der HU.