Wirkungsloser Überwachungswahnsinn in Großbritannien

Kriminalpsychologe Friedrich Lösel über die Wirksamkeit von Videoüberwachung
-
vor 7 Stunden


NÜRNBERG 

-
London gilt als die Stadt mit der größten Videoüberwachungsdichte der Welt. Seit acht Jahren lehrt und forscht der Erlanger Psychologie-Professor Friedrich Lösel als Kriminologe auch an der Universität Cambridge und beschäftigt sich mit der Wirksamkeit von Videoüberwachung. Dabei kommt er zu einer erstaunlichen Erkenntnis.

Bei den Londoner Krawallen 2011 lieferten Videokameras der Polizei Hunderte von Straftätern.

Foto: afp

Bei den Londoner Krawallen 2011 lieferten Videokameras der Polizei Hunderte von Straftätern.

Die Briten ertragen es erstaunlich klaglos, dass vor allem in größeren Städten so gut wie jeder ihrer Schritte in der Öffentlichkeit per Videoüberwachung verfolgt wird. Allein in London sollen Schätzungen zufolge mehr als 400.000 Kameras installiert sein. Nirgendwo auf der Welt ist die Überwachungsdichte größer.

Seit acht Jahren lehrt und forscht der Erlanger Psychologie-Professor Friedrich Lösel als Kriminologe auch an der Universität Cambridge. Dabei hat er sich mit der Wirksamkeit von Videoüberwachung befasst. Die wichtigste Erkenntnis: „Die präventive Wirkung von Videoüberwachung ist sehr begrenzt.“ Das heißt: Die Kameras verhindern Kriminalität nur an speziellen Orten in nennenswertem Umfang. „Vor allem in Parkhäusern und anderen Parkarealen ist dieser Effekt zu beobachten“, sagt Lösel. Insbesondere die Zahl der Autoaufbrüche und -diebstähle ging hier nach der Installation von Kameras in der Größenordnung von rund 25 Prozent zurück.

An anderen Orten, die relativ häufig Schauplatz von Kriminalität - besonders von Gewaltdelikten - waren, blieb eine solch deutliche präventive Wirkung in der polizeilichen Kriminalstatistik aus. Lösel wundert dies nicht: „Potenzielle Täter werden dort gar nicht gewahr, dass sie videoüberwacht werden. Außerdem geschehen Gewaltakte oft aus emotionaler Erregung, Wut oder Provokation heraus. In 50 Prozent der Fälle stehen die Täter unter Alkohol. Die denken nicht darüber nach, ob sie jetzt von einer Kamera aufgenommen werden oder nicht.“

Neueste Studien zeigen aber insofern Effekte, als die Zahl der durch Gewalt bedingten Verletzungen in den Kliniken der überwachten Gebiete sinkt. Möglicherweise liefern solche Daten ein präziseres Bild, da viele Delikte nicht bei der Polizei angezeigt werden. Vorteile, so Friedrich Lösel, bringt die Videoüberwachung auch bei der Suche nach den Tätern. So wurden beispielsweise nach den Krawallen, die im August 2011 etliche Stadtteile Londons und andere Großstädte erschütterten, mit Hilfe der Kameras Hunderte von Tätern schnell ermittelt. Dabei beschränkte sich die Polizei nicht allein auf die Verfolgung von Brandstiftern oder Gewalttätern, sondern spürte auch Ladendiebe per Video auf.

Teilweise wurden selbst Bagatelltäter gleich eingesperrt. Von weiten Teilen der Bevölkerung wird ein solches Vorgehen der britischen Strafverfolger begrüßt. Die den Briten sonst fast heilige Privatheit hat ein Ende, wo der Pragmatismus beginnt. „Wenn’s was bringt, wird es gemacht“, beschreibt Lösel die Mehrheitsmeinung in England. Aufgrund dieser Haltung sei die Politik auf der Insel stärkeren „Pendelbewegungen“ ausgesetzt. Man probiert Maßnahmen aus, sobald berechtigte Zweifel an ihrer Wirksamkeit aufkommen, verabschiedet man sich wieder von ihnen. „In Deutschland“, meint Lösel, „wird dagegen bei einem Thema wie der Videoüberwachung vorab stärker die Frage diskutiert: Was kann man dem Bürger zumuten?“

Innenminister_beraten_über_V-Leute_urn-newsml-dpa-com-20090101-130521-99-07884_large_4_3.jpg

„Keine Kamera verhindert einen Angriff auf Reisende“



Umfrage:


Umfrage: "Soll die Videoüberwachung in Nürnberg ausgedehnt werden?"


Rentner_erschießt_Hamelner_Landrat_und_sich_selbst_urn-newsml-dpa-com-20090101-130426-99-06438_large_4_3.jpg

Kamera läuft: Überwachung in Nürnberg, Fürth, Erlangen

Einerseits, urteilt der Kriminalpsychologe, stecke hinter dieser deutschen Herangehensweise der Versuch, das Sicherheitsbedürfnis der Menschen sowie ihr Recht auf Privatheit, auf die Gewissheit eben, nicht flächendeckend überwacht zu werden, in die Balance zu bringen. Man ist hier aber auch wegen der Erfahrungen im Dritten Reich und in der DDR sensibler. Gleichzeitig stellt Lösel aber fest, dass die politische Debatte über Sicherheitsfragen von den Beteiligten „nach der Art eines Pawlowschen Reflexes“ geführt wird.

Wenn die Konservativen für Videoüberwachung plädieren, sind Liberale und Linke dagegen; und bei anderen Maßnahmen ist es umgekehrt. Auf beiden Seiten vermisst Lösel Beweglichkeit. Eine maßvolle „Aufrüstung“ mit Videoüberwachung hält der Wissenschaftler für sinnvoll. Allerdings nur, wenn sie sich auf Brennpunkte des kriminellen Geschehens beschränkt und — was Lösel fast noch wichtiger ist — wenn sie „in ein umfassenderes, komplexes Sicherheitskonzept eingebettet ist“.

Begleitende Maßnahmen

Lösel denkt dabei vor allem an Kampagnen, die Bürger auffordern, im öffentlichen Raum hinzusehen, was um sie herum passiert; an Anstrengungen der Kommunen, bestimmte Orte und Plätze nicht herunterkommen zu lassen; an „kriminalitätsabweisende Architektur“, die zum Beispiel auf schlecht einsehbare, dunkle Ecken verzichtet. Lösel meint aber auch eine verstärkte Präsenz von Ordnungskräften an Orten mit hoher Kriminalität.

Weitere Meldungen aus der Region

Und der Forscher mahnt zu Besonnenheit. Je aufgeregter diskutiert wird, desto mehr verfestige sich der objektiv falsche Eindruck, man sei längst überall von Kriminalität umgeben. Auch die Terrorismusgefahr dürfe nicht „künstlich hochgespielt werden“. Spanien nennt Lösel da als Beispiel. „Seit den Terroranschlägen von 2004 in Madrid ist die Inhaftiertenzahl im Land auf die höchste Rate in Westeuropa gestiegen.“ 

Open all references in tabs: [1 - 4]

Leave a Reply