Wir kleinen Sünder

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Dan Ariely

Essay

Fast alle Menschen wollen ehrlich sein - und finden doch Gründe zu schummeln. Gegen den Betrug in der Finanzwelt helfen nur neue Anreize und die Erinnerung an alte Werte, meint Dan Ariely.


Der führende Verhaltensökonom Dan Ariely verbindet Psychologie und Wirtschaftswissenschaft: Ariely, 45, wuchs in Israel auf und lehrt an der Duke University, USA. Sein neues Buch über Unredlichkeit gibt es jetzt auch auf Deutsch ("Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge").

Eigentlich wollen wir Menschen immer beides zugleich: Wir möchten uns gut und ehrlich fühlen, wenn wir in den Spiegel schauen. Aber wir wollen schon auch gern die Vorteile der Unehrlichkeit nutzen.

Man könnte meinen, dass nur eines möglich ist: Entweder sind wir ehrlich, oder wir sind es nicht. Es zeigt sich jedoch, dass wir beides zugleich sein können - dank unserer psychologischen Fähigkeit zu "rationalisieren": Solange wir unser Handeln vor uns selbst rechtfertigen können und solange wir bloß ein bisschen schummeln, schaffen wir es, uns immer noch für einen ehrlichen, wundervollen Menschen zu halten. Je besser es uns gelingt, Rationalisierungen zu finden, desto mehr schummeln wir.

Wirklich große Betrüger sind dabei ziemlich selten. Für mein Forschungsprojekt haben wir in den vergangenen Jahren rund 30.000 Leute im Rahmen von psychologischen Experimenten getestet, und nur zwölf ­davon haben dabei in großem Umfang betrogen. Insgesamt haben sie 150 Dollar gestohlen. Aber wir hatten auch 18.000 kleine Betrüger. Sie alle zusammen ließen 36000 Dollar mitgehen.


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Ich glaube, dieses Ergebnis spiegelt unsere Gesellschaft wider. Es gibt große Betrüger, die alle Möglichkeiten ausreizen. Das sind jedoch nur wenige. Die meiste Schummelei geht von Menschen aus, die von sich glauben, dass sie Gutes tun und nur ein bisschen mogeln. Weil es so viele sind, hat das in der Summe ­allerdings einen enormen ökonomischen Effekt.

Vielleicht kennen Sie die Geschichte vom Fritzchen, das aus der Schule einen Tadel mitbringt, weil es seinem Banknachbarn einen Stift gestohlen hat. Fritzchens Vater ist außer sich: "Ich fasse es nicht! Wie kannst du so etwas tun! Man stiehlt nie, nie, nie einen Stift von seinem Nachbarn!" Der Vater verdonnert den Jungen zu zwei Wochen Stubenarrest und streicht ihm schließlich noch einmal mahnend über den Kopf: "Du weißt doch: Wenn du einen Stift brauchst, musst du nur zu mir kommen und etwas sagen. Ich kann dir Dutzende aus dem Büro mitbringen."

Der Stift taugt auch als Beispiel für eine weitere Überlegung: Wenn wir einen Kugelschreiber mitgehen lassen, fühlen wir uns nicht als Dieb. Ganz anders sieht es aus, wenn wir 10 Cent aus einer Kasse nehmen, um damit einen Kugelschreiber zu kaufen. Das Einstecken eines Stiftes ist losgelöst vom Geld. Wenn man bedenkt, dass wir auf dem Weg zu einer bargeldlosen Gesellschaft sind, ist dies ein wichtiger Punkt: Die Distanz zwischen uns und den Konsequenzen unseres Handelns wird immer größer.

Wir leben mit Kreditkarten, elektronischen Geldbörsen, Mortgage-Backed Securities, Aktienoptionen - lauter Instrumenten, die einen psychologischen Abstand zwischen uns und Bargeld schaffen. Wird es dadurch für uns einfacher, unehrlich zu sein?

Die Bankenwelt ist ein erstklassiges Beispiel für den Effekt: Wer einen wichtigen Zinssatz wie den Libor manipuliert, ist durch so viele Zwischenschritte von den Folgen seines Handelns getrennt, dass er gar nicht daran denkt, wen er schädigen könnte. Obwohl sein Handeln Folgen für die ganze Weltwirtschaft haben kann.

In den vergangenen anderthalb Jahren habe ich bei jedem Restaurantbesuch die Bedienung gefragt, ob es eine Möglichkeit gebe, in dem Lokal zu essen und dann die Zeche zu prellen. Natürlich habe ich gleich klargestellt, dass ich das nicht vorhabe. Aber wie würde man es theoretisch anstellen? Alle Befragten (bis auf einen) hatten tolle Vorschläge. Dann wollte ich wissen, wie oft so etwas denn vorkommt. Die Antwort war: fast nie.

Vergleichen wir das einmal mit illegalen Downloads. Als mein Buch über die Unehrlichkeit in den USA erschienen ist, wurde es - welche Ironie! - gleich in den ersten zwei Tagen 20000-mal illegal heruntergeladen.

Spricht man mit jungen Leuten, dann hat fast jeder illegale Musik auf dem Computer und die meisten haben auch kein schlechtes Gewissen. Ein junger Mann sagte mir: "Sorry, aber ich sehe da gar kein Unrecht." Die Musiker wollten doch, dass ihre Songs gehört würden - dafür hätten sie die ja schließlich geschrieben. Die Musikindustrie sei sowieso übel, und kaufen würde er sich die Lieder ohnehin nicht. Er schade also keinem. Außerdem machten es doch alle. Man hätte denken können, dass er nur für die Freiheit und eine bessere Welt kämpft.

Solche Rationalisierung würde in Restaurants nie funktionieren. Man sagt eben einfach nicht: Köche wollen doch, dass ihre Gerichte gegessen werden. Und diese Restaurantkette ist sowieso böse...

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