"Wir folgen unsichtbarem Glaubenssystem"

Wie entscheiden wir, welche Tiere wir essen? Was ist ekelhaft oder köstlich? Melanie Joy beschäftigt sich mit der Psychologie des Fleischessens

Was wir essen und was nicht, sei oft keine individuelle Entscheidung, sondern durch Erziehung und Kultur geprägt, sagt die Psychologin Melanie Joy. Sie hat dafür einen eigenen Ausdruck: "Karnismus". Das sei eine Art Glaubenssystem, das Menschen darauf konditioniert, einige Tiere zu lieben und andere zu essen. Joy erklärt im Interview, wie es funktioniert und durch welche Abwehrmechanismen es aufrechterhalten wird.

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derStandard.at: Wieso ist es gesellschaftlich akzeptiert, Beine von Lämmern zu essen, während kleine Katzen in Europa seltener am Teller landen? Es handelt sich in beiden Fällen um junge Tiere.

Melanie Joy: Das war die Frage, die ich mir gestellt habe, als ich meine Doktorarbeit in Psychologie geschrieben habe. Ich bin mit einem Hund aufgewachsen, den ich wie ein Familienmitglied geliebt habe. Andererseits wuchs ich auch mit Fleischkonsum auf. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie widersprüchlich es eigentlich ist, dass ich mit einer Hand meinen Hund streichle und mit der anderen ein Stück Schwein esse - ein Tier, das genauso klug wie ein Hund ist.

derStandard.at: Sie haben in diesem Zusammenhang den Begriff "Karnismus" geschaffen. Können Sie erklären, was er beinhaltet?

Joy: Im Laufe meiner Arbeit habe ich Veganer, Vegetarier, Fleischesser, Schlachter, Fleischhauer und auch Menschen, die ihre eigenen Tiere aufziehen und schlachten, interviewt. Meine Erkenntnis war, dass wir es mit viel mehr zu tun haben als nur mit individuellen Meinungen, wenn es um das Thema Fleischindustrie geht. Wir folgen einem unsichtbaren Glaubenssystem.

Wenn wir aber einer Sache keinen Namen geben, bleibt sie unsichtbar und wir können sie auch nicht hinterfragen. Ich habe das im Rahmen meiner Arbeit "Karnismus" genannt. Wir neigen dazu, nur Ideologien zu benennen, die abseits des Mainstreams liegen. Doch auch hinter dominanten Kulturen liegt eine Ideologie verborgen. Es ist diese Mentalität von Dominanz und Unterwerfung, die es ermöglicht, "jemanden" in "etwas" zu verwandeln. Oder ein Leben in eine Produktionseinheit zu verwandeln.

derStandard.at: Warum sollte es Menschen interessieren, über diese Ideologie nachzudenken?

Joy: Karnismus ist auch eine gewalttätige Ideologie, denn Fleisch kann nicht ohne Töten produziert werden. Da die meisten Menschen Gewalt ablehnen, haben wir eine Reihe psychologischer und emotionaler Verteidigungsmechanismen entwickelt. Karnismus lehrt einen, wie man nicht fühlt, indem Tiere in "essbar" und "nicht essbar" eingeteilt werden.

Dadurch wird auch unser Ekelgefühl unterdrückt. Die meisten Fleischesser wählen zwischen sechs oder sieben, wenn man abenteuerlustig ist, vielleicht etwas mehr Arten, die gegessen werden. Dabei findet immer eine Kultur die eigenen Entscheidungen vernünftiger als jene anderer Kulturen. In vielen westlichen Kulturen sind Hunde zum Beispiel eher Haustiere als Mahlzeiten. Andere Kulturen essen Lebewesen, die wir vielleicht als Schädlinge ansehen.

derStandard.at: Bei Diskussionen über Fleischkonsum fühlen sich einige Fleischesser schnell beleidigt. Auch in den Foren geraten Diskussionen schnell unter die Gürtellinie. Wodurch entsteht die aggressive Abwehrhaltung einer Gruppe, die sich eigentlich in der Überzahl befindet und auch gesellschaftlich akzeptiert wird?

Joy: Eine Form, wie Systeme wie Karnismus funktionieren, ist, dass es Verteidigungsmechanismen gibt. Veganismus und Vegetarismus sind eine Bewegung, die zwar gerade erblüht, aber dennoch von einer Minderheit gelebt wird. Leute können abfällige Bemerkungen über Vegetarier und Veganer machen, die völlig inakzeptabel wären, wenn es um das Thema Religion oder Geschlecht gehen würde.

Eine Art und Weise, wie auch historisch gesehen dominante Systeme sich selbst erhalten haben, war, andere Meinungen zu bagatellisieren und deren Vertretern Radikalismus zu unterstellen. "Shoot the messenger" - dann muss man die Schlussfolgerungen ihrer Aussagen nicht ernst nehmen.

derStandard.at: In Ihren Vorträgen weisen Sie darauf hin, dass nicht nur Tiere Opfer der Fleischindustrie sind.

Joy: Die Nutztiere sind nur die offensichtlichsten Opfer. Doch auch die menschlichen Opfer werden außerhalb des öffentlichen Bewusstseins gehalten. Auch die Arbeiter in Schlachtbetrieben sind teilweise Opfer. In den USA sind es zum Beispiel sehr oft Immigranten. Die Arbeit ist sehr riskant und so gefährlich, dass Human Rights Watch im Jahr 2005 in einem Bericht einen einzigen Industriezweig kritisiert hat, dessen Arbeitsbedingungen so entsetzlich sind, dass grundlegende Menschenrechte verletzt werden. Es handelte sich um die Fleischindustrie.

derStandard.at: Auch wenn die Mechanismen vielleicht vielen Menschen klar sind, werden kaum alle aufhören, Fleisch zu essen. Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?

Joy: Es geht mir nicht nur darum, dass die Menschen über die Bedingungen der Fleischproduktion aufgeklärt werden, sondern auch darum, dass ihnen klar wird, nach welchen Mechanismen sie ihre Entscheidungen treffen. Ohne Bewusstsein darüber können wir unsere Entscheidungen nicht wirklich frei treffen.

Wenn wir es nicht schaffen, die Mechanismen zu erkennen, die allen gewalttätigen Ideologien zugrunde liegen, sind wir dazu verdammt, die Gräuel in anderen Erscheinungsformen immer wieder zu reproduzieren. Wir können Gerechtigkeit überall praktizieren, auch auf unseren Tellern. (Julia Schilly, derStandard.at, 22.3.2012)

Zur Person

Melanie Joy ist Autorin des Buches "Why We Love Dogs, Eat Pigs and Wear Cows". Sie studierte in Harvard und ist derzeit Psychologin, Lebenstrainerin und Professorin für Psychologie und Soziologie an der Universität von Massachusetts in Boston. Joy ist zudem seit mehr als 20 Jahren im Tierschutzbereich aktiv.

Link

carnism.com

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