Wie die Schutzbehörden künftig die richtigen Fragen stellen – Tages

Die Hoffnungen waren gross, als vor einigen Jahren in allen Kantonen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden Kesb die bisherigen Vormundschaftsbehörden ablösten. Von den neuen, regionalen und mit Fachleuten besetzten Behörden versprach man sich nachvollziehbarere und damit auch vergleichbarere Entscheide, als dies unter den lokalen Laienbehörden der Fall war. Inzwischen herrscht Ernüchterung: Die Kesb geniessen in der Öffentlichkeit einen schlechten Ruf – auch wegen dramatischer Fälle wie jenem von Flaach, als eine Mutter zwei Kinder tötete, damit diese nicht zurück ins Heim mussten. Viele Betroffene können die Entscheide der neuen Behörden nicht verstehen; die Kesb gelten als technokratisch.

Das hat nicht nur, aber auch damit zu tun, dass es den Kesb noch immer an einer gemeinsamen Haltung fehlt. Sie sind von Kanton zu Kanton anders organisiert; das Angebot zum Beispiel an ambulanten Familienhilfen, Heimplätzen und Pflegefamilien unterscheidet sich je nach Region beträchtlich. Ob in einer bestimmten Situation ein Kind in seiner Familie verbleibt, hängt davon ab, wer die Abklärung wie vornimmt. «Und das darf nicht sein, es braucht gewisse Standards», sagt Diana Wider, Generalsekretärin der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz.

Das könnte sich künftig ändern. Die Hochschule Luzern hat zwei Instrumente entwickelt – eines in Zusammenarbeit mit der Hochschule Bern für den Kinderschutz, ein zweites in eigener Regie für den Erwachsenenschutz. Mit den beiden Tools soll die aktuelle Gefährdungssituation umfassend eingeschätzt werden können. Sie sind unlängst auf den Markt gekommen; derzeit sind erste Kesb daran, sie in der Praxis einzuführen. «Grundidee ist es, den Abklärenden zu ermöglichen, mittels richtiger Fragen zu einem guten Ergebnis zu kommen», sagt Daniel Rosch. Der ausgebildete Sozialarbeiter und Jurist hat zusammen mit dem Psychologen Andreas Jud massgeblich an der Entwicklung der beiden Tools mitgearbeitet. Beide sind Dozenten an der Hochschule Luzern.

Risikofaktoren überall gleich

Die beiden computerbasierten Instrumente kann man sich wie eine Online-Steuererklärung vorstellen: Schritt für Schritt wird der Abklärende durch einen Fragenkatalog geführt, je nach Antwort öffnen sich weitere Fenster. Wer sich bei einer Frage nicht ganz sicher ist, der kann auf sogenannte Ankerbeispiele klicken. Diese erklären ausführlich, was genau gemeint ist. So finden sich unter dem Punkt «auffälliges Verhalten» bei Kleinkindern als Ankerbeispiele unter anderem «grob altersuntypische motorische Probleme, stark verzögerte Sprachentwicklung», bei Teenagern «Angstzustände, Aggressivität, autistische Auffälligkeiten».

Basis für die Fragen und die Ankerbeispiele ist der aktuelle Stand der Forschung. Vor allem im Kinderschutz sind die wichtigsten Risikofaktoren heute recht gut erforscht. Und es besteht darüber ein relativ grosser internationaler Konsens, sagt Andreas Jud: «Kulturell unterschiedlich bewertet wird vielleicht, wie stark sich bestimmte Risikofaktoren auswirken. Aber die Faktoren an sich sind überall gleich: Wenn ein Kind daheim verprügelt wird, gefährdet das in jedem kulturellen Kontext eine gesunde Entwicklung.» Diese Basis ist es, welche insbesondere das neue Kinderschutz-Abklärungsinstrument entscheidend von bereits bestehenden abhebt, etwa dem Stuttgarter Kinderschutzbogen. «Dieser ist eher erfahrungsbasiert», so Jud. Das sei nicht falsch – aber einige wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse fehlten in diesem Bogen. Ein Beispiel: «Frühere Vorfälle gehören zu den bestbelegten Risikofaktoren für eine ungünstige weitere Entwicklung», sagt Jud. «Dennoch fragen die Abklärenden viel zu selten nach älteren Dossiers.» Ein weiteres Beispiel seien Kindheitserfahrungen der Eltern, so Jud: «Haben diese ebenfalls Misshandlungen erfahren, ist auch das ein empirisch gut belegter, starker Risikofaktor.»

Etwas anders sieht die Lage beim Erwachsenenschutz aus: Hier gibt es nur wenig Forschung. Deshalb orientiert sich dieses Tool an einem in den Sozialwissenschaften gängigen und mehrfach validierten Konzept, der sogenannten biopsychosozialen Einschätzung.

Ein weiteres Merkmal, das die beiden neuen Instrumente laut Daniel Rosch international einmalig macht: Sie enden nicht mit der Abklärung und der daraus abgeleiteten Risikoeinschätzung, sondern enthalten auch die möglichen Massnahmen sowie die einschlägigen Rechtsgrundlagen. «Das hilft den Abklärenden, alle möglichen Alternativen in Betracht zu ziehen», erklärt Rosch. «Und es zwingt sie, sauber zu begründen, warum eine bestimmte Massnahme infrage kommt oder auch nicht.»

Sicherheit und Legitimität

Die Einschätzung der Fachleute ersetzen die beiden Tools nicht, halten Rosch und Jud fest. Und die Abklärung wird damit auch nicht schneller. «Der Computer hilft dabei, sauber abzuklären und alle relevanten Fragen zu beantworten», sagt Rosch. Das sei schon viel: «Es kann den Abklärenden Sicherheit geben, und es kann die Legitimität der Behörden erhöhen, wenn sie immer nach dem selben Standard arbeiten.» Was der Computer aber nicht könne: aus den Abklärungsresultaten eine Prognose ableiten und auf deren Grundlage mögliche Massnahmen definieren. Dafür brauche es Fachleute. Dies an den Computer zu delegieren, wäre «nicht im Sinn des Erfinders», so Rosch.

Die Frage ist: Wird das in der Praxis funktionieren? Tatsächlich seien systematische Abklärungsinstrumente nicht unumstritten, räumt Jud ein. Vor allem im angelsächsischen Raum existiert eine umfangreiche akademische Literatur, welche die Standardisierung kritisch hinterfragt – eben weil die Gefahr besteht, dass sich die Abklärenden auf ein bestimmtes Schema verlassen, statt eigene Schlüsse zu ziehen.

Jud sieht diese Gefahr durchaus, hält dem aber kritisch entgegen: «Die Forschung zeigt auch, dass die Mitarbeitenden von sozialen Diensten und Institutionen immer eine Vorstellung haben, warum sie eine Massnahme anordnen. Die Frage ist nur, ob sie quasi einem ungeschriebenen, inneren Standard folgen oder einem, der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht.»

In den nächsten Jahren wollen die beiden Hochschulen deshalb erforschen, wie sich die Instrumente in der Praxis bewähren, wie die Kesb sie einsetzen und ob sich in ihrer Arbeit etwas verändert. Jud ist überzeugt, dass das standardisierte Verfahren das Entscheidverhalten beeinflusst: «Ich hoffe, dass das Kinderschutz-Tool dazu führt, dass die Behörden in ähnlichen Situationen ähnlicher reagieren. Und sicher wird die Entscheidungsgrundlage mit dem Tool transparenter.»

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 21.12.2015, 22:49 Uhr)

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