Wie das Trauma nach Gewalt verarbeitet werden kann

Wie aus einem schlechten Film erscheint, was am Dienstag in Lüttich geschehen ist: Mit Handgranaten und einer Pistole tötete ein 33-Jähriger zunächst zuhause eine Frau und später ein Kind und zwei Jugendliche am zentralen Platz der Stadt, bevor er sich selbst durch einen Schuss in den Kopf selbst tötete.

Foto: REUTERS
Jugendliche erlebten auf der norwegischen Ferieninsel Utoya den Schrecken, der im Trauma mündet. Jeder verarbeitet ihn unterschiedlich

125 Personen wurden verletzt. Die Überlebenden werden noch lange mit den Folgen der Wahnsinnstat zu kämpfen haben – nicht nur körperlich, auch psychisch. Für viele Terroropfer ist eine psychologische Betreuung ein Muss, um nicht dauerhaft traumatisiert zu bleiben.

Seelisch trifft es auch jene hart, die bei Gewalttaten zwar körperlich unversehrt bleiben, aber Stunden oder Tage bedroht, misshandelt oder missbraucht werden oder um ihr Leben fürchten müssen – etwa die Jugendlichen, die Anders Breivik im Sommer auf der Insel Utoya bedrohte, die sich versteckten und Todesangst erlebten.

Erforscht an Vietnam-Veteranen

Einige von ihnen verbarrikadierten sich in der kleinen Schule der Insel, wo sie zitternd, gegen Hyperventilation kämpfend und unter Betten gezwängt hörten, wie der Täter versuchte, sich von außen Zugang zu verschaffen und dabei wild um sich schoss.


Was brauchen die Betroffenen, damit sich kein posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS) entwickelt?

Dieses Krankheitsbild wurde erstmals an Vietnam-Veteranen erforscht. Symptome auf lange Sicht sind Schlafstörungen, Angst, schmerzhafte Erinnerungsschübe, Gefühle von Schuld und Scham, Interessenverlust, Schmerzzustände und Konzentrationsschwierigkeiten.


Die Symptome eines Traumas bei Kindern sind unterschiedlich. Manchmal fallen sie in frühere Entwicklungsstufen zurück, indem sie wieder anfangen zu nuckeln oder ins Bett zu machen.

Manche haben plötzlich Angst im Dunkeln oder können kaum schlafen.

Einige Kinder werden hyperaktiv, andere erstarren regelrecht.

Jungs drücken ihre Aggression eher aus, indem sie andere schlagen oder drangsalieren.

Mädchen richten ihre Wut dagegen oft gegen sich selbst, manche verletzen sich oder werden magersüchtig.

An der Universität Greifswald gehen die Traumaforscher Philipp Kuwert und Professor Christine Knaevelsrud neue Wege in der Therapie von PTBS: In der aktuellen Studie „Lebenstagebuch“, an der ältere Menschen mit ihren unverarbeiteten Kriegserlebnissen mitwirken, sind die ersten Ergebnisse vielversprechend. Die Teilnehmer berichten mehrheitlich von besserem Nachtschlaf und mehr innerer Ruhe.

In der „integrative testimonial therapy“ (etwa: umfassende Therapie, bei der Zeugnis abgelegt wird) geht es darum, dass der Patient eigenständig und in selbst gewähltem Tempo verdrängte Schmerzen wieder ans Tageslicht holt und sich seine Erinnerungen von der Seele schreibt. Mit dieser Methode haben die Greifswalder Forscher erstaunlich gute Resultate erzielt – und dass obwohl das Trauma der Probanden schon Jahrzehnte zurückliegt.

Die Behandlung und biografische Aufarbeitung läuft dabei über sechs Wochen. Proband und Therapeut kommunizieren über das Internetportal www.lebenstagebuch.de und besteht aus strukturierten Behandlungseinheiten.

Nie gebrochene Tabus

Für viele Probanden waren die schrecklichen Kriegserlebnisse mit Tabus und Schweigen verriegelt, die sie bis zum Angebot der Studie auch selber niemals gebrochen hatten. Gerade, dass sie in vertrauter Umgebung zuhause am PC schreiben können, erleichtere das Erinnern, sagen die Greifswalder Mediziner. Wichtig sei es für die Heilung, die starken Gefühle noch einmal zu erleben – und auszuhalten.

Erleben Menschen starke Schockzustände, frieren die Emotionen gewissermaßen ein, was bei unerträglichem Schmerz kurzfristig ein sinnvoller Überlebensmechanismus ist. Langfristig jedoch kann die Lebensqualität extrem gedrosselt werden. Die Symptome des PTBS machen das Leben dann schwer und führen oft zu einem trostlosen Gefühl innerer Leere und des Neben-sich-Stehens.

Die Krankheit entstehe dadurch, dass Teile des Erlebten nicht in die übrige Gefühlswelt integriert werde, wobei aber alles zu dem Menschen gehöre, erläutert Kuwert. Bei einem unerwarteten Schockerlebnis hat das Gehirn Probleme, das Erlebte abzuspeichern, der Betroffene entwickelt Erinnerungslücken. Das Trauma ist auf einer unbewussten Ebene trotzdem virulent und hinterlässt seine unliebsamen Spuren.

„Flashbacks“, bei denen plötzlich Bilder des Geschehens und starke Gefühle auftauchen, die nichts mit der Gegenwart zu tun haben, können aber als Selbstheilungsmechanismus verstanden werden – als Signal für zu leistende Erinnerungsarbeit, sagt Kuwert. Denn erst, wenn das Geschehene wieder komplett ins Bewusstsein integriert ist, fühlt sich der Patient besser. Wie die Studie zeigt, ist Heilung sogar möglich, wenn das Erlebte Jahrzehnte zurückliegt.



Folteropfer – Kampf gegen das Trauma

Die Folgen des norwegischen Terrors werden manche der jungen Menschen und auch ihre Helfer stärker zeichnen als andere. „Das Vorkommen und die Intensität von posttraumatischen Belastungsstörungen verläuft sehr individuell“, weiß Philipp Kuwert.

Warum das gleiche Trauma von den einen eigenständig verarbeitet wird, ohne das Leben nachhaltig zu beeinträchtigen, bei den anderen aber den Alltag erschwert und sogar den Rest des Lebens fast unmöglich macht, ist noch weitgehend unerforscht. Klar ist: Frauen haben ein statistisch höheres Risiko, zu erkranken, und auch Jugendliche, die sich ohnehin in einer Umbruchphase des Lebens befinden.

Neuere Forschungen sprechen dafür, dass es in der Intensität der Therapie um die rechte Balance geht. Mehr Behandlung ist nicht gleichbedeutend mit schnellerer Heilung. Das traumatische Ereignis darf nicht verschwiegen werden, aber auch nicht zum Mittelpunkt des Lebens werden. Es sei wichtig, dass spätestens nach ein paar Wochen wieder ein geregelter Alltag aufgenommen wird, um Stabilität herzustellen.

Kein Zwang zum Reden

Keiner, der etwas Schreckliches erlebt hat, sollte gezwungen werden, darüber zu reden. „Es reicht, eine Behandlung anzubieten, aber der Wunsch dazu muss von jedem Einzelnen selber kommen“, sagt Kuwert. „sonst können die Symptome sogar noch verschlimmert werden.“ Einen Vorteil haben die Opfer von Lüttich oder Utøya: Das traumatische Ereignis wird heute in westlichen Ländern anerkannt. „Viele Opfer des Zweiten Weltkriegs haben das niemals erfahren.“

Wenn die Betroffenen vorher relativ gesund waren, könnten zwölf bis 20 Sitzungen ausreichend sein. Auch die neuen sozialen Medien wie Facebook können eine geeignete Plattform sein, die Erlebnisse mit Gleichgesinnten zu verarbeiten, sagt Kuwert: „Das ist ein bisschen wie früher, als die Menschen zusammen ums Lagerfeuer saßen, ihre Geschichten erzählten, um sich auszutauschen. Für die Psyche ist das extrem heilsam.“ Alles, was das Leben wieder stabilisiert, hilft. Dazu können auch Elemente aus der Meditation zählen, mit denen der Patient einen inneren sicheren Ort findet.

Nicht wenige, die Schreckliches durchstanden, berichten von der inneren Reife, die damit ebenso gewachsen sei. Ein Thema, das auch die Traumaforschung mehr und mehr interessiert. Von „posttraumatic growth“, sprechen die Forscher, die das Phänomen an ehemaligen deutschen Kindersoldaten erforschen. Ein solch langfristiger Umgang mit den grausamen Erfahrungen, die sie als Teil der eigenen Lebensgeschichte akzeptieren, könne den PTBS-Patienten helfen, aus der Opferrolle zu kommen.

Open all references in tabs: [1 - 8]