Wie wird der Mensch zum musikalischen Genie? Durch Talent oder durch unermüdliches Üben? Die meisten Psychologen setzen mittlerweile auf Letzteres. Laut einer Studie der Berliner Hochschule für Künste gilt: Nur wer im Alter von 20 Jahren mindestens 10.000 Stunden geübt hat, besitzt wirkliche Chancen, einer der Großen seiner Zunft zu werden.
Durch das "Überflieger"-Buch des amerikanischen Publizisten Malcom Gladwell wurde diese Zehntausender-Formel geradezu zum Allgemeingut, und entsprechende Vorbilder gibt es ja auch genug. Von Mozart und Beethoven bis zu Michael Jackson und den Beatles – sie alle hatten fünfstellige Zahlen an Übungsstunden hinter sich, als sie in die Blüte ihres Schaffens kamen.
Doch Wolfram Goertz von der Musikerambulanz des Universitätsklinikums Düsseldorf warnt: "Die Quantität des Übens macht noch keinen musikalischen Überflieger – es kommt vielmehr auf die Qualität an." Viele Musiker – egal, ob im Profi- oder Amateurbereich – blieben weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, weil sie nicht optimal trainieren. Ganz zu schweigen davon, dass sie dadurch oft auch ihren Körper über Gebühr strapazierten.
Viele Musiker haben gesundheitliche Probleme
"Etwa 70 Prozent aller in Deutschland aktiven Musiker", so der Mediziner, "bekommen im Laufe ihres Leben gesundheitliche Probleme, die auf ihre Musikausübung zurückgehen". Vieles davon wäre vermeidbar, wenn man beim Üben weniger auf das "Herunterkloppen" der Stunden als auf die physiologischen und lernpsychologischen Voraussetzungen achten würde.
Dazu gehört, dass man dem Gehirn genügend Zeit gibt, sich die komplexen Bewegungsabläufe beim Musizieren einzuprägen. So machen gerade technisch versierte Musiker oft den Fehler, dass sie eine schwierige und schnelle Tonpassage sofort in dem Tempo üben, in der sie vom Komponisten verlangt wird.
Was dann nicht nur oft die Frustrationsquote, sondern auch – weil ein überforderter Bewegungsapparat sich eher verkrampft – das Verletzungsrisiko erhöht. "Dabei ist die Zeitlupe ein geradezu perfektes Verfahren, um dem Gehirn die Chance zu geben, einen Bewegungsablauf abzuspeichern und zu beherrschen", so Goertz.
Diese Methode – die Bewegung erst langsam erlernen, um sich dann allmählich zu Zieltempo vorzuarbeiten – sei beim Sport schon länger üblich, und es gebe keinen Grund, sie nicht auch beim Musizieren anzuwenden. Nach Meinung von Goertz, der neben Musik auch Medizin studiert hat, sollte man sich ohnehin nicht davor scheuen, die eine oder andere Strategie aus dem Leistungssport zu übernehmen.
Der Leistungssport macht es vor
"Viele Gesundheitsprobleme von Musikern ließen sich verhindern, wenn sie sich vor und nach Proben und Konzerten dehnen und warm machen würden." So machen immer noch viele Geiger vor einer Probe oder einem Konzert nichts weiter, als ihr Instrument zu spielen. Das ist ungefähr so, als würde ein Profifußballer sofort aufs Tor schießen und im Sprint übers Feld rennen.
Doch das macht er schon lange nicht mehr. Und genauso sollte auch der Geiger erst einmal die Muskeln in seinen Fingern, Armen und Nackenpartien durch gezielte Dehnungs- und Entspannungsübungen auf seinen Einsatz vorbereiten. Ein weiterer wichtiger Bestandteil für eine effektive Musikarbeit ist die Pause.
In diversen Orchestern ist es nach wie vor üblich, anderthalb Stunden zu üben, dann mal kurz für eine Zigarettenlänge zu unterbrechen, um schließlich wieder 90 Minuten hart zu arbeiten. Für den Einen oder Anderen mag dies gut sein, so Goertz, "doch für die weniger robusten Musiker ist das sicherlich ein Nachteil".
Hier seien eher Pausen im 45-Minuten-Intervall angezeigt. Außerdem empfiehlt sich, öfter mal die Technik des passiven und stummen Übens einzustreuen. Passiv heißt, dass man anderen Interpreten zuhört, oder auch sich selbst, indem man moderne Aufnahmetechniken nutzt. Und stumm heißt, dass man nur die Partituren eines Stückes liest und sie im Kopf durchgeht, anstatt konkret zu spielen.
Mehr Denken statt Spielen
Für Dirigenten ist dies schon lange selbstverständlich, doch auch Pianisten, Gitarristen, Schlagzeuger und andere aktive Musiker profitieren davon. Nicht nur, dass sie dadurch das Risiko des "Overuse", der Überstrapazierung ihres Bewegungsapparates reduzieren, sie profitieren auch in lernpsychologischer Hinsicht.
"Schon das bloße Denken eines Klangerlebnisses bahnt im Gehirn jene neuronalen Verbindungen, die man später beim Spielen brauchen wird", erklärt Goertz. Bleibt schließlich noch die allseits bekannte, aber oft ignorierte Trivialerkenntnis, dass Üben am besten funktioniert, wenn es motiviert geschieht.
Denn sonst wird es zu keinen sonderlichen Erfolgen führen, insofern sich das Gehirn nur ungern und unvollständig jene Dinge einprägt, die keine Bedeutung haben. Es hat also keinen Zweck, ein Kind gegen seinen Willen zum täglichen Klavierspielen anzuhalten.
Zu leicht sollte man ihm das Aufgeben allerdings auch nicht machen. "Denn man kann durchs tägliche Üben auch Dinge zu seinen Freunden machen, die man hasst", betont Goertz. Wer etwa für eine schwierige Passage von Chopin viele Stunden am Klavier übt, wird sie möglicherweise sogar mehr zu schätzen lernen als derjenige, der sie schon nach wenigen Minuten spielen konnte.
Was Mühe kostet, gewinnt man lieb
Denn der Mensch baut eine intensivere Beziehung zu dem auf, was er sich selbst erarbeitet hat, als zu dem, was ihm geschenkt wurde. Oder wie der Dichter Novalis es ausdrückte: "Was einen Mühe kostet, das hat man lieb."
Dennoch kann es nicht schaden, wenn man einen Trick kennt, die einem Nachwuchsmusiker ohne Druck aus seinen Motivationskrisen hilft. Und den fanden unlängst Wissenschaftler der University of Michigan. Demnach lernen Kinder umso bereitwilliger für ein bestimmtes Fach, wenn man ihnen glaubhaft vermitteln kann, dass es sie später beruflich konkret weiterbringt.
Es nützt also nichts, wenn man dem motivationsschwachen Nachwuchspianisten erzählt, dass es nichts Heilsameres für die Seele gebe als die Musik. Sondern man muss ihm erzählen, dass er später einmal Geld damit verdienen kann. Und wenn es nur in der Bar oder auf einem Touristendampfer ist. Was einmal mehr bestätigt: Was Eltern als Bedrohung empfinden, ist oft genau das, was Kinder als ihre Perspektive sehen.
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