Wenn sich das Ich in Frage stellt


26.01.2013 01:10 Uhr Lokales Main-Taunus

Verlangt das Leben zu viel von jungen Menschen?

Jugendliche geraten immer häufiger in psychologische Stresssituationen. Janine Hofmann und Kay Litzinger fragten einen Psychologen, warum das so ist.

Hofheim. Jugendliche haben manche Last zu tragen: Magersucht, Ticks und psychosomatische Beschwerden, Depressionen und auch Burnout. Ich. Wir reden jeden Tag in der Ich-Perspektive, sehen unser Ich oft im Spiegel. Was macht dieses Ich eigentlich aus? Was passiert, wenn man das Gefühl hat, die Kontrolle über sein Ich zu verlieren? "Wenn man das Ganze entwicklungspsychologisch betrachtet, ist es zunächst einmal so, dass Kinder über kein eigenes Ich verfügen", erklärt Diplom-Psychologe Manfred Burkart (69). Bis zum dritten oder vierten Lebensjahr sehen sie sich als Einheit mit der Mutter. Es entstehe eine Art "Wir-Dimension". Erst durch die berüchtigte Trotzphase beginnt sich die "Symbiose zwischen Mutter und Kind", wie Burkart es nennt, ein Stückchen aufzulösen. Das ist etwas, was vielen Eltern nicht richtig bewusst ist. Kinder müssen sich abgrenzen, dazu gehören auch Streit und Aggression. Allmählich bilde sich so ein Ich-Bewusstsein heraus. Das Ich, unsere Persönlichkeit, bestehe aus Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, aber auch Leistungen.

Leistungen spielen für Kinder und Jugendliche besonders in der Schule eine Rolle. Jedoch betont Burkart: "Einmal haben wir die Leistungsseite, also alles, was das Intellektuelle angeht, aber wir haben gleichzeitig auch die emotionale Seite. Diese wird zum Problem, wenn ich merke, dass ich im Klassenverband eine Außenseiterrolle habe." Konkrete Fälle kennt er zum Beispiel bei Hochbegabten, die teilweise einen IQ von über 135 hätten, aber schulisch gescheitert seien. Hierzu erzählt der Psychotherapeut von zwei hochbegabten Brüdern, die bei ihm in Behandlung waren: Der Ältere hatte eine Klasse übersprungen, war aber ein Außenseiter und deshalb unglücklich. Burkart beschreibt ihn als sehr ernsten Menschen, der sich in der Schule sofort einschaltete und sagte, wie etwas richtig geht. Sein jüngerer Bruder hatte nacheinander zwei Klassen übersprungen und war allseits beliebt, ganz anders als der Ältere der beiden. Auf nachfragen hin erklärte der Junge, er habe überlegt, sich anders zu verhalten als sein großer Bruder. "Er sagte immer, er ist sich nicht sicher, ob das richtig ist, obwohl er es genau wusste, sodass er nicht als Besserwisser erschien", so Burkart. "Der Unterschied ist, dass er neben seiner Intellektualität beziehungsweise seiner kognitiven Intelligenz auch über eine hohe soziale Intelligenz verfügt. Soziale Intelligenz bedeutet nämlich auch, dass man beobachtet, wie das eigene Verhalten auf andere wirkt."

Die Ängste

Psychologie umfasse das gesamte Verhalten des Menschen, dazu gehören die Ebene der Kognition, also der Gedanken, Fantasien und die Ebene des Erlebens, der Affekte und Emotionen. Außerdem gibt es die Ebene der körperlichen Befindlichkeit sowie die Handlungsebene. Er als Psychotherapeut befasse sich speziell mit krankhaftem oder abweichendem Verhalten. Oft übermannen die Betroffenen Ängste und Erregungen, so dass sie sich überfordert fühlen und das subjektive Empfinden entstehe, die Macht über das eigene Ich zu verlieren. Verhaltensauffälligkeiten sind häufig in Konflikt- und Stresssituationen, wie beispielsweise der Scheidung der Eltern, zu beobachten. Beispiele seien dissoziales Verhalten, Magersucht, Ticks und psychosomatische Beschwerden, wie Bauchschmerzen, aber auch "private Krankheiten" wie Bettnässen.

Bei Kindern und Jugendlichen kämen außerdem Teilleistungsstörungen wie LRS und Legasthenie, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen wie ADS und ADHS recht häufig vor. Burkart ergänzt auch Autismus und affektive Störungen, wobei es sich um Ängste und spezielle Phobien handele, sowie die "Volkskrankheit Nummer eins": Depressionen. Besonders häufig im Bezug darauf sei bei Kindern und Jugendlichen Dysthymia, ein Ansatz einer Depression. "Empfindungen wie gedämpfter Schaum, keine Freude zu erleben, den Alltag als grau zu empfinden und das Fehlen emotionaler Höhepunkte sind charakteristisch."

Die Familie

Im Fall von Psychosen nehme sich der Betroffene selbst nicht mehr richtig wahr. In diesem Moment komme es vor, dass Betroffene Stimmen hören oder Anweisungen bekommen und das Gefühl haben, diesen folgen zu müssen. Er habe sogar einmal erlebt, dass jemand meinte, eine Botschaft in einer Sprache zu erhalten, die er eigentlich nicht versteht.

Persönlichkeitsstörungen werden in der Regel bei Jugendlichen nicht diagnostiziert. "Im Grunde sind Kinder die Symptomträger", erkärt Burkart. Dies bedeute, dass man oft nicht in erster Linie das Kind behandeln muss, sondern die Familie. Gerade bei Kindern ist es sehr wichtig, das direkte Umfeld in eine Therapie mit einzubeziehen. Bezüglich der Behandlung stellt der Psychotherapeut klar: "Ich kann eigentlich nicht selbst helfen. Ich gebe Hilfe zur Selbsthilfe." Wichtig sei auch, zu entdecken, welche Ressourcen man hat, was man gut kann und dass man Macht über das eigene Verhalten hat, es steuern kann. "Mir ist ganz wichtig, gerade bei Jugendlichen, sie zuerst einmal so zu akzeptieren wie sie sind, ihre Handlungen zu verstehen." Ein entscheidender Punkt sei aber die Motivation. Wenn die Jugendlichen nicht motiviert sind, ihr Verhalten zu ändern, werde die Behandlung sehr schwierig. Bei Jugendlichen habe er auch schon erlebt, dass sie von sich aus zu ihm gekommen sind. Oft ist es jedoch so, dass den Eltern von schulischer oder ärztlicher Seite nahegelegt wird, mit ihrem Kind einen Therapeuten aufzusuchen. "Das Besondere bei Kindern ist oft, dass sie gar nicht in Behandlung wollen und eher denken, die Eltern müssten in Behandlung."

Die Schweigepflicht sieht Burkart als Problem. Denn bis zur Volljährigkeit gilt diese gegenüber den Eltern juristisch gesehen nicht. "Ich fühle mich aber verpflichtet, das, was mir die Jugendlichen anvertrauen, für mich zu behalten und die Eltern nur grob zu informieren. Das verlange ich auch den Eltern ab, wenn sie mit ihren Kindern kommen, dass sie das akzeptieren." Nur so könne ein geschützter Raum entstehen. Die Jugendlichen müssten sich frei äußern können, ohne Angst vor Bewertung. Wenn die Eltern nun aber unterschiedliche Auffassungen gegenüber der Behandlung haben, führt das zu Problemen, sofern beide Elternteile das Sorgerecht haben. Denn stimmt einer der beiden der Therapie nicht zu, muss diese abgebrochen werden. "Das ist sicherlich etwas, wo die Gesetzgebung gefordert ist, eine Änderung herbeizuführen, damit die Behandlungsbedürftigkeit im Vordergrund steht", fordert Burkart. Durch den zunehmenden Leistungsdruck in der Schule spielt das Überforderungssyndrom Burn-Out zunehmend auch bei Kindern und Jugendlichen eine Rolle. "Mein subjektiver Eindruck ist, dass die Kinder durch G 8 um einen Teil ihrer Jugend beraubt werden." Sie seien in ihrer Freizeit sehr eingeschränkt. "Für die Persönlichkeitsbildung eines jungen Menschen ist das nicht gut. Denn es ist nicht der Allein-Seligmacher, ein super Zeugnis hinzulegen." Besonders der Umgang mit Freunden, Vereinen und das Familienleben tragen zur Entwicklung bei. Gerade in dieser Zeit, in der Pubertät, müssten die Jugendlichen in die Rolle des Erwachsenen hineinfinden und das Ich komplettieren.

Artikel vom 25. Januar 2013, 19.50 Uhr (letzte Änderung 26. Januar 2013, 04.05 Uhr)

 

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