Wenn die Schaulust übermächtig wird – Reutlinger General

Polizisten von der Schwäbischen Alb erinnern sich noch an einen schweren Unfall mit einer eingeklemmten Frau, die an einem Samstagnachmittag sehr aufwendig geborgen werden musste. In kürzester Zeit seien mindestens 30 Schaulustige, manche mit Kindern, zu Fuß an die Unfallstelle gekommen. Einige hätten dort über zwei Stunden ausgeharrt. Obwohl die Unfallstelle mangels Personal von der Polizei nicht abgesperrt wurde, wurde der Einsatz aber nicht behindert.

Kurios mutet ein weiterer Fall im Landkreis Reutlingen an, der den Polizisten im Gedächtnis geblieben ist. Da habe bei einem tödlichen Verkehrsunfall eine nahegelegene Tankstelle »extra eine Art Gartenwirtschaft« eingerichtet, um die Schaulustigen zu bewirten.

Die Schaulust bei ungewöhnlichen Vorgängen ist ein allgemeines Phänomen. »Das steckt in jedem«, erklärt Adolf Gallwitz. er arbeitet als Professor für Psychologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen. »Ich nähere mich dem Abgrund, vor dem ich mich fürchte.« Das funktioniert schon im Kleinen: »Sie brauchen bloß im Café ein Glas runterzuschmeißen, sofort haben Sie die Aufmerksamkeit aller«, so der Psychologe. Für die Zuschauer könne das Beobachten eines Unglücks etwas Beruhigendes haben; sie sagen sich, »mir kann das nicht passieren, mir ist es nicht passiert«. Das funktioniert beim heruntergefallenen Glas ganz ähnlich wie beim schweren Autounfall. Bei größeren Ereignissen wird auch das Selbstbewusstsein des Zuschauers gesteigert, quasi nach dem Motto: »Ich bin auch jemand. Ich kann davon berichten.«

Ganz ähnlich äußerte sich auch schon Bernd Gasch, Notfallpsychologe an der Technischen Universität Dortmund: »Im Prinzip ist jeder Mensch ein Gaffer«, ließ er sich in der »Apotheken Umschau« zitieren. »Es ist ganz normal, dass man sich umdreht, wenn es irgendwo knallt. Das ist eine natürliche Reaktion, die man nicht negativ werten darf.«

Menschen wollen wissen, was in ihrer Umwelt geschieht, wollen wissen, ob sie sich vielleicht selbst in einer Gefahr befinden, oder auch, ob sie aus dem Schicksal eines anderen etwas lernen können.

»Wir müssen an den Unfall- und Tatorten speziell Kräfte für die Absperrung vorsehen. Das bindet Beamte, die wir für den eigentlichen Einsatz gut brauchen könnten«, sagt Andrea Kopp. Sie kümmert sich bei der Polizeidirektion Reutlingen um die Öffentlichkeitsarbeit. Viele Schaulustige wollen unbedingt das Opfer oder die Leiche fotografieren. So gebe es an Unfallorten immer wieder »unschöne Szenen«, wie Kopp es ausdrückt. Polizeibeamte würden verbal angegriffen, und in seltenen Fällen entstünden sogar Rangeleien. Immer wieder müssen sich die Polizisten auch vor den Schaulustigen zum Beispiel für Absperrungen rechtfertigen. Kopp: »Schlimm ist, dass die Leute die Polizeibeamten dafür verantwortlich machen, dass sie in ihrer als absolut angesehenen Freiheit behindert werden.«

Es kam auch schon mal vor, dass ein Zuschauer glaubte, er müsse den Beamten erklären, wie man einen Unfall richtig aufnimmt. »Der dachte, er sei kompetent, weil einer seiner Verwandten auch bei der Polizei war,« erinnert sich Kopp. Der Mann, so berichtet die Reutlinger Polizei, habe durch seine ungebetenen Belehrungen die Unfallaufnahme erheblich behindert, sei schließlich auch noch aggressiv geworden und habe angefangen, sich mit den Unfallbeteiligten zu streiten. Die Beamten erteilten ihm schließlich einen Platzverweis, dem er - »nach langem Hin und Her« - nachkam.

Die Polizisten sehen aber auch ernsthafte Gefahren durch allzu neugierige Mitmenschen. So kommt es bei Unfällen immer wieder zu Staus auf der Gegenfahrbahn, weil Fahrer zum Gaffen abbremsen. Kopp: »Oft kommt der Verkehr erst durch die Schaulustigen zum Erliegen, gar nicht durch den Unfall selbst.« Dann steige auch die Gefahr von Auffahrunfällen. Im Bereich der Polizeidirektion Reutlingen kam es bislang aber noch zu keinem »gravierenden Fall mit schweren Folgen«, so Kopp.

Die Lust am Gaffen ist freilich kein neues Phänomen. Das zeigt ein Fall, der schon 30 Jahre zurückliegt. Es war Sonntagnachmittag. Auf der Bundesstraße 312 bei Metzingen waren bei einem schweren Verkehrsunfall zwei Menschen ums Leben gekommen. Dabei rückten rund 150 Gaffer samt Kindern den Polizisten so dicht auf den Leib, dass die Polizei die Feuerwehr um Hilfe bitten musste. Gutes Zureden und förmliche Platzverweise hatten nicht gefruchtet, die Menge rückte immer wieder vor. Die Feuerwehr musste schließlich »leichten Regen« einsetzen, um die Schaulustigen auf Distanz zu halten, berichtet Kopp.

Der Metzinger Feuerwehrkommandant Hartmut Holder hat »positive und negative Erfahrungen« mit Neugierigen und Schaulustigen gemacht. »Wenn jemand guckt, stört es mich wenig, falls er auf Distanz bleibt, und den Einsatz nicht behindert. Dann ist das ganz in Ordnung«, sagt der Kommandant. Es gebe aber auch extreme Fälle.

So brannte es 1992, vor nunmehr zwanzig Jahren, im Grafenberger Gasthaus Löwen. »Es war ein schöner Sommertag. Da saßen die Leute draußen an den Tischen und gingen nicht weg. Sie machten nichtmal Platz, damit wir eine Leiter stellen konnten. Zwei Kinder sind damals verbrannt«, erinnert sich der Kommandant an den Einsatz, der ihn »für sein Leben geprägt« hat. Die Feuerwehr wurde von Schaulustigen behindert. Selbst, als die Polizei die Gaffer aufforderte zurückzutreten, machten die Schaulustigen nur widerwillig Platz.

Holder über ein weiteres Problem der Feuerwehren: »Manche Schaulustige stellen ihre Autos so ungünstig ab, dass man mit den Einsatzfahrzeugen nicht durchkommt, oder sie stehen ausgerechnet an einem Hydranten.« Nach der Erfahrung des Metzinger Feuerwehrkommandanten versammeln sich bei Verkehrsunfällen eher Schaulustige als bei Bränden. »Es passiert immer wieder, dass da Leute mit Kindern an die Unfallstelle marschieren, wo Verletzte und Tote liegen.«

Holder hält es für möglich, dass auch das Fernsehen die Menschen verroht. Immer wieder seien zum Beispiel in den amerikanischen CSI-Krimiserien Bilder von Leichen zu sehen.

Weniger mit Schaulust, mehr mit Habgier hat wohl ein Erlebnis zu tun, an das sich Hartmut Holder erinnert. Da war ein Tiefkühllaster umgestürzt. Der Fahrer lag noch unter seinem Fahrzeug, Polizei und Feuerwehr waren im Einsatz. Dann kam ein anderer Autofahrer, sammelte die verstreut herumliegenden Tiefkühlwaren auf und verstaute sie in seinem Auto ? der tödliche Unfall als gute Gelegenheit, billig an Lebensmittel zu kommen. Holder: »Da zweifelt man an der Menschheit und fragt sich schon, was in manchen Köpfen vorgeht.«

Was in den Köpfen vorgeht, weiß von Berufs wegen am ehesten wohl der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz. Schaulustige tauchen bei praktisch hundert Prozent aller Polizeieinsätze auf, es sei denn, sie finden in einer ganz menschenleeren Gegend statt, stellt der Experte fest. Früher wurde sogar der Polizeifunk abgehört, heute sorge unter anderem der Kurznachrichtendienst Twitter für die schnelle Verbreitung der Nachricht, dass und wo etwas Besonderes passiert ist.

»Schaulustige sind ein großes Problem, weil sie oft auch Hilfs- und Rettungsarbeiten behindern«, so der Psychologe. Deshalb gehöre der Umgang mit den »Gaffern« auch zur psychologischen Ausbildung der Polizeibeamten. »Die einzige Möglichkeit, die Sie da haben, ist, den Einzelnen und nicht die Masse der Schaulustigen anzusprechen.« Generelle Ansagen übers Megafon nützten gar nichts. Man müsse Einzelne bitten, zum Beispiel zu helfen oder Platz zu machen, um so dann Bewegung in die ganze, eher träge Gruppe zu bekommen, sagt der Experte. Sonst kommt es vielleicht auch zum sogenannten »Bystander-Effekt«.

Dieser Fachbegriff bezeichnet das Phänomen, dass einzelne Zeugen eines Unfalls oder kriminellen Übergriffs mit geringerer Wahrscheinlichkeit eingreifen oder helfen, wenn weitere Zuschauer (englisch bystander, also »Dabeistehender«) anwesend sind. Da sagt sich dann jeder: Wenn mein Nebenmann nicht hilft, wird der gute Gründe dafür haben. Dann mache ich lieber auch mal nichts, sonst bin ich am Ende noch für irgendwas verantwortlich.

Dieser psychologische Effekt wird auch Genovese-Syndrom genannt. Das geht zurück auf den Mord an der US-Amerikanierin Kitty Genovese in den 60er-Jahren in New York.

Mindestens 38 Personen aus ihrer Nachbarschaft beobachteten damals den lange dauernden brutalen Überfall auf die Frau, ohne dass ihr jemand geholfen hätte. Jeder dachte wohl, es würde schon ein anderer die Polizei rufen oder eingreifen.

Neu ist das Phänomen der Schaulust im Übrigen nicht. »Schon unsere Vorfahren sind dahin gegangen, wo Rauch aufgestiegen ist: Das steckt in uns«, sagt der Psychologe Gallwitz. Es gibt bei Menschen eben ein Interesse für die Artgenossen und die Fähigkeit zum Mitleid. (GEA)

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