Wenn das Dunkel verschwindet

29. November 2011, Neue Zürcher Zeitung

Heinz-Gerhard Friese versucht sich an einer «Ästhetik der Nacht»

Ludger Lütkehaus ⋅ Der Kulturwissenschafter, Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur Heinz-Gerhard Friese, universitär in den Fächern Philosophie mit dem Schwerpunkt Ästhetik, Psychologie, Soziologie, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften zu Hause, hat eine tausenddreihundert eng bedruckte Seiten samt zweitausend Anmerkungen und einem vierzigseitigen Literaturverzeichnis umfassende, leider registerlose «Ästhetik der Nacht» vorgelegt, die sich zugleich mit dem Untertitel «Leib und Raum» als der nur erst erste Teil einer Kulturgeschichte der Nacht versteht. Es ist themengerecht nicht zu viel gesagt, dass der interessierte Leser etliche seiner noch ungenutzten Nächte auf die Lektüre verwenden könnte. Das Buch «überkomplex» zu nennen, käme einer krassen Simplifikation gleich.

So viel Nacht, so wenig Nacht

Friese ist mit seinem Thema keineswegs allein. So viel Nacht wie derzeit war selten. Vor drei Jahren schon ist etwa die gleichfalls als Kulturgeschichte der Nacht annoncierte Studie «Tiefer als der Tag gedacht» aus der Werkstatt der Zürcher Anglistin Elisabeth Bronfen erschienen. Und das Lucerne Festival hat sein musikalisches Programm im vergangenen Sommer wie schon andere «Nacht»-Veranstalter zuvor unter das Thema «Nacht» gestellt. Nicht zu vergessen auch, dass unlängst gleich zwei voluminöse Biografien, die eine von Wolfgang Hädecke, die andere – eine erweiterte Neuauflage – von Gerhard Schulz, Leben und Werk des Nacht-Mystikers und -Hymnikers der deutschen romantischen Literatur porträtierten: Friedrich von Hardenberg alias Novalis. An Nacht also kein Mangel. So scheint es jedenfalls.

Doch gleichzeitig gilt: So wenig Nacht wie derzeit war selten. Als Belege können mehrere, freilich nur bedingt poetische, mystische und hymnische Ansichten von der Lichtseite der Nachtwissenschaft dienen. Als signifikantes Kuriosum könnte man noch den knolligen Einfall des russischen Ingenieurs Alexander Lawrynow abtun, den Weltraum mit satellitengestützter Reklame zu erleuchten. Der amerikanische Astro-Immobilien-Makler Dennis Hope ist unterdessen schon dabei, mit seiner Firma Lunar Embassy die lunaren Immobilienrechte als reale Basis für die Reklame-Nutzung des Weltalls (www.lunarembassy.com) zu offerieren.

Weit gravierender ist allerdings die erdgestützte, die sozusagen normale Lichtverschmutzung des nächtlichen Himmels. Sie ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sich der tschechische Astronom Jan Hollan vom Niklas-Copernicus-Observatorium in Brünn mit der amerikanischen Dark Sky Association verbünden musste, den Feinden der Nacht eine gesetzgeberisch zu verankernde Lichthygiene entgegenzustellen. Die Hochkonjunktur des Themas «Nacht» hat also ihren folgerichtigen kompensatorischen Sinn. Die Dämmerung, in der nach der vielzitierten Einsicht des eigentlich illuminationsfreundlichen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel philosophische Nachtvögel ihren Flug beginnen, droht selber zu verdämmern.

Heinz-Gerhard Frieses «Ästhetik der Nacht» ist auf diesem Hintergrund von beträchtlicher Aktualität. Das Riesenwerk ist ungeheuer belesen und immer wieder anregend. «Ästhetik» meint dabei nicht primär eine Lehre vom Schönen, sondern im alten Sinn des Begriffs die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Vorstellungen der Nacht. In der nur hundertseitigen Vorrede bietet Friese zunächst ein instruktives «Spotlight» auf «die historischen Veränderungen des ästhetischen Nachtprogramms in den westlichen Städten». Die zeitlich uneingeschränkte Zirkulation des Börsenkapitals etwa, die unablässige Computerisierung, die grenzenlose ewige Gegenwart von Bildschirmen, die keine Rettungsschirme sind, die Idee der Globalisierung überhaupt zielen auf die Aufhebung der Nacht, die nur noch als «Tod des Geschäfts» verstanden wird. Die Schichtarbeit hat damit begonnen, die Grenzen der Nacht aufzuheben. Die Elektrifizierung hat das nachtfeindliche Programm fortgesetzt. Und nun gilt: «Ebay ist immer.»

Auf den Spuren der Romantik

Hier hätte eine katastrophisch zugespitzte Kulturgeschichte der Nacht fortfahren können. Stattdessen zieht Friese es vor, auf den Spuren einer romantischen Nacht-Psychologie die Geschichte der äusseren Nacht aus der «Dunkelheit in uns, der Prädominanz der inneren Nacht», zu rekonstruieren: ein Programm, das ein gewisses Interesse finden kann, aber nur bedingt eine angemessen dissonante Geschichte der Nacht im Zeitalter ihres Verschwindens bietet. Auch fast vierhundert Seiten über Hesiods «Theogonie» können das nicht wettmachen. Die anschliessenden Ausführungen über den «Nachtleib», die «Nachtsprache» und das «Nachtbild», über Schlaf, Traum und Rausch und ein anregendes Kapitel über das Nachtmahl spinnen das romantische Thema eher fort, als dass sie den Stand der nachtfeindlichen modernen Nachtgeschichte reflektierten. Auf sie hätte diese Kulturgeschichte der Nacht mehr Licht werfen können.



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