"Wahnsinn" als wissenschaftlicher Durchbruch – science.ORF.at

"Ich habe entschieden, meinen Wahnsinn nicht als einen Zusammenbruch zu betrachten, sondern als einen Durchbruch." Als Edith Weisskopf diese Worte in den 1960er Jahren in ihrem Tagebuch notiert, ist die Diagnose längst eindeutig: Sie leidet unter Schizophrenie.

Ihre Erfahrungen mit der Krankheit und der Therapie hält sie akribisch fest. Die Psychologin analysiert in ihren Aufzeichnungen auch die Ursachen ihrer Schizophrenie, und zwar anhand der eigenen Biografie.

Wissenschaft oder Dame der Gesellschaft?

Edith Weisskopfs Lebensgeschichte, die die Historikerin Katharina Kniefacz vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien aufgearbeitet hat, beginnt 1910. Sie wächst in einer jüdischen, bürgerlichen Familie auf. "Ihr Vater ist bereits früh verstorben. Ihre Mutter wollte sie eher als eine Dame der Gesellschaft erziehen und unterstützte ihre eigene wissenschaftliche Karriere nicht unbedingt", sagt Katharina Kniefacz.

Dennoch: Edith Weisskopfs wissenschaftliche Karriere beginnt 1929 an der Universität Wien, zunächst mit einem naturwissenschaftlichen Fokus. Doch nachdem die Schwester des Kernphysikers Victor Weisskopf ein Auslandssemester in Göttingen verbracht hat, ändert sie ihre Studienwahl 1932: Statt Physik und Mathematik studiert sie in Wien von nun an Philosophie und Psychologie.

Ihre Lehrer sind bekannt: der Philosoph Moritz Schlick, Mitbegründer des Wiener Kreises, und das Ehepaar Karl und Charlotte Bühler, die Urheber der "Wiener Kinderpsychologischen Schule".

1938 vertrieben

1936 kann Edith Weisskopf ihr Studium abschließen. Ihr letztes Rigorosum legt sie bei Moritz Schlick ab - zwei Wochen bevor dieser von einem antisemitischen Studenten in der Universität Wien erschossen wird. Sie beginnt anschließend Medizin zu studieren, wird jedoch 1938 als jüdische Studentin vertrieben.

Die gesamte Familie, Edith Weisskopf, ihre beiden Brüder und die Mutter emigrieren in die USA. Trotz der schlechten Arbeitsmarktlage für Flüchtlinge findet die Psychologin dort schnell eine Anstellung: Sie arbeitet als Ausbildnerin im Fach Psychologie an einem College nahe New York.

Doch bald stößt sie dort auf ein wissenschaftliches Problem, erläutert die Wissenschaftshistorikerin Katharina Kniefacz: "Sie kämpft mit den großen Unterschieden zwischen der europäischen Psychologie, die mehr geisteswissenschaftlich orientiert ist - auf das Individuum und Gesprächstherapie - und der amerikanischen Psychologie, die eher experimentell naturwissenschaftlich ausgerichtet ist."

Neuer Ansatz in der Psychologie

Trotz dieser Diskrepanzen gelingt es Edith Weisskopf, bereits Mitte der 1940er Jahre erste Fachartikel zu veröffentlichen. Bereits damals beschäftigt sie der seit der Kindheit verinnerlichte Wunsch nach "Normalität" und der Furcht vor "Abnormalität". Sie hat mittlerweile die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten und geheiratet. Doch die Ehe hält nur zwei Jahre.

1949 kann ihre wissenschaftliche Karriere endgültig beginnen: Sie wird Assistenzprofessorin für Psychologie an der Purdue University im Bundesstaat Indiana. Es gelingt ihr, den aus Wien mitgebrachten geisteswissenschaftlichen Ansatz in die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie der USA einzuarbeiten. "Sie konnte diesen Ansatz sogar in einen Vorteil gegenüber den amerikanischen Kollegen und Kolleginnen zu verwandeln", ergänzt Katharina Kniefacz.

Zusammenbruch als Durchbruch

Anfang der 50er Jahre heiratet Edith Weisskopf ein zweites Mal: den in Lettland geborenen Ingenieur und Unternehmer Michael Joelson - 1961 kommt es zur Trennung. Kurze Zeit später steckt sich Edith Weisskopf-Joelson mit Tuberkulose an. Zwei Jahre lang, von 1962 bis 1964, ist sie deswegen in Behandlung. Während der Therapie tauchen erste Symptome von Schizophrenie auf. Sie muss ihre wissenschaftliche Karriere unterbrechen und begibt sich in eine psychiatrische Klinik.

"Überraschenderweise kann sie ihre wissenschaftliche Tätigkeit Ende der 1960er Jahre trotz der krankheitsbedingten Unterbrechung wieder aufnehmen", sagt Kniefacz. Edith Weisskopf-Joelson empfindet ihre "Geisteskrankheit" nicht als Zusammenbruch, sondern als Durchbruch, menschlich wie wissenschaftlich. Alle Schlüsse, die sie aus ihrer Zeit als psychiatrische Patientin zieht, hält sie in ihrem Tagebuch fest, das die Purdue University 1988 posthum veröffentlicht. Dort hält sie unter anderem fest:

Wir sind nicht dazu bestimmt, von morgens bis abends flott und effizient zu sein. […] Diejenigen, die das nicht tun können, sind die Unangepassten. Es sind Menschen, die nicht unterdrückt werden können. Menschen, die die kalte Rationalität des wissenschaftlichen Zeitalters nicht ertragen. Menschen, die verweigern sich in Maschinen zu verwandeln. Menschen, deren inneres Leben zu stark und unbestechlich ist, um ein problemloses Funktionieren in einer Massengesellschaft zuzulassen.

Wissenschaftlerin bis zum Lebensende

Edith Weisskopf-Joelson, will sich von nun an nicht mehr dem gesellschaftlichen Druck aussetzen, um jeden Preis "normal" wirken zu müssen, erläutert die Wissenschaftshistorikerin Katharina Kniefacz: "Sie betrachtet die eigene 'Geisteskrankheit' als Befreiung und plädiert von nun an für eine Interessensvertretung von psychisch Erkrankten."

Von 1966 an kann Edith Weisskopf-Joelson noch zahlreiche Studien zum gesellschaftlichen und therapeutischen Umgang mit Schizophreniepatienten veröffentlichen. Und sie ist bis zu ihrem Tod im Jahr 1983 als Lehrende im Fach Psychologie aktiv.

"Sie war bei ihren Studierenden sehr beliebt", betont Katharina Kniefacz, "denn sie hat nicht versucht, Fakten Experimente oder Statistiken nachzuerzählen, sondern mit ihren persönlichen Erfahrungen zu lehren."

Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft

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