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«Viele Eltern von intersexuellen Kindern schämen sich»

Was steckt hinter dem Wunsch, intersexuelle Kinder operativ zu «richtigen» Mädchen oder Buben zu machen? Die Frage geht an Otfried Höffe, Präsident der Humanmedizin-Ethikkommission.

«Betroffene verschaffen sich heute mehr Gehör»: Otfried Höffe in seinem Haus in Tübingen. Foto: Tobias Gerber

«Betroffene verschaffen sich heute mehr Gehör»: Otfried Höffe in seinem Haus in Tübingen. Foto: Tobias Gerber

Otfried Höffe

Der Deutsche Otfried Höffe (72) war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2011 Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Davor lehrte er in Fribourg und Zürich. Seit 2009 präsidiert er in der Schweiz die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin. (TA)

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Kürzlich hat Sie das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte nach Genf eingeladen. Weiten Sie das Einflussgebiet der Nationalen Ethikkommission aus?
Der UNO-Anlass war ein Expertentreffen zum Thema Intersexualität. Wir von der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) haben eine Stellungnahme dazu verfasst, die erfreulicherweise über die Landesgrenzen hinaus zur Kenntnis genommen wird. Der Deutsche Ethik­rat, aber auch die Vereinten Nationen haben die Empfehlungen zustimmend aufgenommen.

Oft wird Intersexualität mit Transsexualität verwechselt.
Das ist nicht dasselbe. Intersexuell sind Personen, die mit einem biologisch uneindeutigen Geschlecht geboren sind. Aus genetischen oder anderen Gründen lässt sich nicht eindeutig sagen, ob sie männlich oder weiblich sind. Meist ist ihr körperliches Erscheinungsbild nicht klar ausgebildet, es ist also etwa keine Vagina oder kein Penis vorhanden, oder diese sind nur schwach entwickelt. Schätzungsweise 1 von 2000 Neugeborenen ist betroffen. Transsexuell hingegen sind Personen, die ihr biologisch eindeutiges Geschlecht als für sie unangemessen empfinden, die es daher wechseln möchten.

Laut einer Studie mit Betroffenen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich wurden 90 Prozent aller intersexuellen Erwachsenen mindestens einmal operiert. Die Mehrheit im Alter zwischen null und drei Jahren. Was steckt hinter dem Wunsch, intersexuelle Kinder operativ zu «richtigen» Mädchen oder Buben zu machen?
Die Aufteilung in Frau und Mann ist gesellschaftlich, kulturell und rechtlich tief verankert. Viele Eltern von intersexuellen Kindern schämen sich. Oder sie befürchten, dass ihr Kind es künftig schwerer haben wird als andere. Diese Erwartung ist nicht ganz unberechtigt. Spätestens in der Schule wird das Kind merken, dass es anders ist: In welche Garderobe soll es im Sportunterricht gehen, welche Toilette soll es benutzen? Besonders schwierig ist die Pubertät. Sie ist ja für alle Heranwachsenden eine Herausforderung, aber für intersexuelle Menschen in erhöhtem Mass. Manche Eltern lassen ihre Kinder also operieren, weil sie es ihnen einfacher machen wollen.

Sie sagen aber, dass diese Behandlungen zu grossen Problemen führen.
Ja. In vielen Fällen kommt es bei den Betroffenen zu schwerwiegenden körperlichen Komplikationen, zu chronischen Schmerzen, zum Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit und zu einer Beeinträchtigung des Sexuallebens sowie zu psychischen Folgeerkrankungen. In den meisten Fällen macht man aus den Betroffenen Mädchen, da das operativ einfacher ist. Wenn aber die Betroffenen sich später nicht als Mädchen fühlen, wird es für sie sehr schwierig.

Was sollen Ärzte betroffenen Eltern raten?
Sie müssen ihnen deutlich machen, dass in der Regel die Entscheidung für oder gegen eine Operation nicht sofort fallen muss. Ferner, dass diese Operationen nur in seltenen Fällen medizinisch indiziert sind, etwa bei bestimmten Krebserkrankungen.

In allen anderen Fällen kann man auf Operationen verzichten?
So scheint es zu sein. Zumindest kann man zu­warten, bis die Kinder selbst darüber entscheiden können. Wir empfehlen, die Kinder möglichst früh in die medizinischen Behandlungsentscheide einzubinden. Man sollte ihre Entscheidungsfähigkeit doch nicht unterschätzen. Ärzte und Psychologen müssen die Eltern zudem darin bestärken, ihre Kinder so anzunehmen, wie sie sind. Nur dann können sie zu selbstbewussten Menschen heranwachsen.

Was, wenn sich Betroffene später für eine Operation entscheiden?
Dann ist es unseres Erachtens wichtig, eine etwaige Veränderung bei den Behörden unbürokratisch vollziehen zu können. Ich denke insbesondere an das Zivilstandsregister, in dem Geschlecht und Name eingetragen sind. Das Leid der Betroffenen soll nicht noch grösser werden, als es ohnehin schon ist.

Deutschlands Behörden haben 2013 das dritte Geschlecht als Option eingeführt. In der Schweiz ist das nicht geplant, auch weil die NEK dagegen ist. Warum?
Wir haben kein grundsätzliches Veto eingelegt, sondern nur erklärt: Unter den derzeitigen Bedingungen halten wir es noch nicht für vernünftig. Wir haben Zweifel, ob dieses dritte Geschlecht die Betroffenen so viel besser stellt. Die meisten wollen sich ja selbst einer der beiden Kategorien zuordnen. Dieser Wunsch besteht nicht nur bei den Eltern. Wenn man im Passbüro ankommt und das dritte Geschlecht ankreuzt, wird jeder Passbeamte zunächst einmal – schauen. Ein stigmatisierender Effekt.

Vor 20 Jahren war das Thema Intersexualität in der Öffentlichkeit fast unbekannt. Verschaffen sich Betroffene heute mehr Gehör?
Das trifft zu. Auch deshalb nehmen Politiker und sogenannte Ethiker das Leid wahr, das die Betroffenen erleiden mussten und immer noch müssen. Hinzu kommt, dass wir in den letzten zwanzig, dreissig Jahren ein weit grösseres Mass an selbstverständlicher Toleranz entwickelt haben.

Leben wir heute in der besten Zeit für Normabweichler?
Normabweichler – den Ausdruck verwende ich mit Vorbehalt – haben es heute ohne Frage besser als früher. Aber ob wir schon die beste denkbare Zeit erleben – da bin ich zurückhaltend. Bei der Homosexualität hat die Toleranz zugenommen, ja, bei Selbstmördern auch. In Grossbritannien war Suizid noch bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg ein Straftatbestand. Man könnte zwar einwenden: Das hat die Selbstmörder nicht mehr berührt. Doch oftmals wurden auch die Hinterbliebenen bestraft, indem das Vermögen eingezogen wurde. Dann verlor eine Ehefrau neben ihrem Gatten gleich auch noch die Lebensgrundlage. Das ist zum Glück vorbei.

Wo bleiben wir im Alltag intolerant?
Vielleicht im Sport? Über Frauenfussball kann man oft hören: «Das sind doch alles Lesben.» Und wenn sich ein männlicher Fussballer als homosexuell ­outet, ist das für manche Fans immer noch ein ­Problem. Das liegt wohl am Selbstverständnis von Sportvereinen und ihrer Anhänger: Fussball soll ein besonders männlicher Sport sein. Es wird wohl noch ein bisschen Zeit brauchen, bis Homosexualität auch hier kein Thema mehr ist.

Die neue Toleranz hat aber Grenzen, oder? Etwa bei Genitalverstümmelungen im Namen der Tradition.
Toleranz endet stets dort, wo es berechtigte Rechte, namentlich Grund- und Menschenrechte, gibt. Die Toleranz fällt sich nicht selbst in den Rücken.

Wenn Diskriminierung aller Art nicht mehr salonfähig ist, verändert sich dadurch unsere Sprache? Werden wir politisch korrekter?
Das gibt es, ja. Ich weiss von einem hochrangigen Unternehmer, der eine Zeit lang in den USA tätig war. Dort hat er seiner Sekretärin einmal ein Kompliment für ihre fesche Kleidung gemacht, worauf sie sagte: «Ich weiss, wie Sie es meinen. Aber seien Sie vorsichtig, das könnte von anderen als sexuelle Belästigung verstanden werden.» In den USA geht leider manchmal das Augenmass verloren.

Beim Thema Intersexualität hat die NEK auf Bitten der Politik eine Stellungnahme erarbeitet. Ist das der übliche Vorgang?
Ein möglicher Vorgang. Die NEK ist empfehlungsberechtigt und verpflichtet gegenüber dem Innenminister, also Alain Berset, aber auch gegenüber dem Bundesrat als Korpus, weiter dem Parlament und vor allem der Öffentlichkeit. Manchmal werden wir angefragt, manchmal werden wir von uns aus tätig.

Womit befasst sich die Kommission derzeit?
Ein wichtiges Thema sind die Biobanken. Hierzu gab es Interpellationen aus dem Parlament. In den nächsten Monaten kommen unsere Empfehlungen heraus. Das Thema ist hochaktuell.

Was sind Biobanken? Medizinische Ersatzteillager?
Biobanken sind Sammlungen von biologischem ­Material wie Gewebe, Blut oder DNA, das mit persönlichen Daten der Spenderinnen und Spender verknüpft ist, insbesondere mit Daten aus Krankengeschichten. Zu den Biodatenbanken gehören überdies auch reine Datensammlungen, die biologisches Material in Form genetischer Daten aufbewahren und mit anderen Personendaten verlinken. Dabei tauchen unterschiedliche Interessen auf, etwa die der biomedizinischen Forschung und auf längere Sicht die Bedürfnisse künftiger Patienten sowie der Ärzteschaft. Wirtschaftliche Interessen kommen hinzu. Auf der anderen Seite aber steht das Selbstbestimmungsrecht der Spender, einschliesslich des Rechts auf Wissen oder aber Nichtwissen in Bezug auf gesundheitsrelevante Befunde.

Können Sie uns hier ein Beispiel geben?
Wenn während einer klinischen Studie zur Lungenfunktion eine Niereninsuffizienz festgestellt wird: Soll man das der Versuchsperson mitteilen? Oder muss man schon zu Beginn fragen: Würden Sie es eventuell wissen wollen? Dass man einschlägige ­Daten für weitere Forschung aufbewahrt, ist durchaus sinnvoll. Jedoch stellt sich die Frage, wie die Daten anonymisiert werden können. Und besonders: Funktioniert der Datenschutz?

Sie haben 2009 bei der NEK angefangen. Bleiben Sie ihr bis auf weiteres erhalten?
Für nächstes Jahr gibt es Ersatzwahlen. Da ich nicht mehr der Jüngste bin, erwarte ich, dass der Bundesrat sich eine jüngere Person sucht.

Würden Sie denn gern bleiben?
Die Arbeit hat mir immer Spass gemacht und macht mir weiterhin Spass. Wenn ich abends zu meiner Frau nach Hause komme, bin ich recht zufrieden.

Weshalb?
Die NEK ist das, was man generell von Schweizern sagt: im ursprünglichen Sinne bürgerlich. Wir gehen freundlich miteinander um. Parteipolitische und andere Gegensätze treten nicht so hervor, auch gibt es keine Gruppen- oder Verbandsvertreter in der Kommission wie etwa im Deutschen Ethikrat. Wir achten darauf, dass wir ungefähr hälftig Männer und Frauen und dass alle Landesteile vertreten sind. Ansonsten geht es um Kompetenz.

In jüngster Zeit hat sich Ihre Kommission auch mit der Kultur des Sterbens befasst. Was versteht man darunter?
Es gibt den lateinischen Ausdruck der Ars Moriendi, also Kunst des Sterbens. Dabei heisst «Ars» nicht schöne Kunst, sondern eher Handwerk. So wie ein medizinischer Kunstfehler nichts mit Malerei zu tun hat, sondern mit einem Arzt, der sein ­Metier nicht beherrscht. Bei der Kultur des Sterbens fragen wir uns: Wie geht man persönlich mit dem Sterben um? Wie die Verwandten, die Nachbarn, die Gesellschaft, wie die Organisationen und die Institutionen? Haben wir noch Rituale?

Zu welcher Antwort kommen Sie?
Das Bedürfnis nach Ritualen besteht durchaus. Man weiss aber nicht, wie sie aussehen sollen. Was wir uns ferner fragen: Sprechen wir über das Sterben? Wenn ich höre, dass ein Bekannter eine schwere Diagnose hat und in absehbarer Zeit stirbt, wie gehe ich damit um: Besuche ich ihn, oder rufe ich ihn an? Und wie schreibe ich seiner Frau nach seinem Tod einen Kondolenzbrief? Meine These ist, dass wir die Sprache dafür bereits ein gutes Stück verloren haben. Bei unserem Projekt geht es also weniger um die Hilfe zu sterben als um Hilfe beim Sterben.

Ist das ein drängendes Problem?
Ohne Zweifel, auch wenn es sich in unseren Wohlstandsgesellschaften anders stellt. Wir dürfen nicht vergessen, dass vielerorts unter erschreckenden Bedingungen gestorben wird: nach einem Tsunami, ­einem Erdbeben, auf der Flucht. Wir leben hier mit einem sehr guten Gesundheitswesen, haben Ärzte und Spitäler in der Nähe. Doch auch unter diesen Bedingungen müssen wir die Kunst des Sterbens als eine wahrhaft existenzielle Aufgabe ernst nehmen.

(Tages-Anzeiger)

Erstellt: 09.10.2015, 20:11 Uhr


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