Verhaltensforschung: Wann nerve ich?

Und was genau ist es, was mich an anderen nervt? Folgen Sie unserer Autorin in die Tiefen der Nervensägenforschung. Und tauchen Sie entspannt und gelassen wieder auf. von Myriam Salome Apke

Genervtsein sei eine milde Form von Ärger, meinen einige Psychologen. Andere sagen, es gehe sogar mit leichter Verachtung einher.  |  © benicce / photocase.de

Eine Expertin für das Thema Nerven bin ich schon – ich lebe mit meinem Bruder zusammen. Trotzdem habe ich für diese Recherche noch mit folgenden Wissenschaftlern gesprochen:

Prof. Dr. Mitja Back, Fachbereich Psychologie, Universität Münster; Dr. Michael
Cunningham, Department of Communication, University of Louisville; Dr. Meike Jipp, Institut
für Verkehrssystemtechnik, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt; Dr. Robin Kowalski,
Department of Psychology, Clemson University; Prof. Dr. Jörg Merten, Institut Gnosis
Facialis; Dr. Simone Pika, Max-Planck- Institut für Ornithologie; Dr. Katrin Rentzsch,
Fachbereich Psychologie, Universität Bamberg; Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, Institut für
Hirnforschung, Universität Bremen; Prof. Dr. Rainer Sachse, Institut für Psychologische
Psychotherapie, Ruhr-Universität Bochum; Prof. Dr. Gerhard Stemmler, Fachbereich
Psychologie, Universität Marburg.

Jetzt muss ich die Erkenntnisse nur noch in mein Leben einbauen. Ein Tag sollte genügen.

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8 Uhr: Mein Bruder macht mich verrückt. Entwickele ich das, was Psychologen als "soziale
Allergie" bezeichnen?

Ich stehe auf, erledige die Morgentoilette. Mein Bruder ist schon wach, das erkenne ich 1. an der Pfütze vor der Dusche, 2. an den Bartstoppeln im Waschbecken, 3. daran, dass die Klopapierrolle nicht am vorgesehenen Halter hängt und, gehetzt blicke ich mich um, nicht aufzufinden ist! Ich habe es ihm schon so oft gesagt: erst belustigt ("Hey, was machst du denn immer mit der Rolle? Spielst du heimlich Mumie?"), dann freundlich-mahnend ("Kannst du bitte die Rolle zurück in den Halter legen. Ich mag nicht immer suchen."), ich hab es auf Zettelchen geschrieben und hingehängt ("Rolle bitte im Halter lassen. Danke."), es per SMS gesendet ("Die Rolle ist schon wieder unauffindbar. Das ist ungünstig.). Jetzt koche ich innerlich – und schreie ihn an. Ich weiß, dass ich überreagiere, die Wörter "nie", "immer", "jedes Mal", die jetzt sehr laut aus meinem Mund kommen, sind eindeutige Indikatoren dafür. Eigentlich ist nichts passiert, und ich könnte es handhaben wie bisher: neue Rolle, netter Hinweis, und das war’s. Aber diesmal klappt das nicht.

Die Diagnose ist klar: akute "soziale Allergie". So wie andere Leute auf Pollen reagieren, reagiere ich auf das Klorollen-Verhalten meines Bruders. Das mit der Allergie ist nicht meine Idee. "Soziale Allergene" sind nach Definition des Psychologen Michael Cunningham Verhaltensweisen anderer Menschen, die einen anfangs vielleicht nur leicht stören, mit der Zeit aber ganz gewaltig. Je öfter man aber mit dem Verhalten konfrontiert wird, desto sensibler wird man, bis es auf Dauer zu heftigen Reaktionen kommt. Es ist also durchaus vergleichbar mit physischen Allergien: Ein anfänglicher Pollenflug lässt den Körper aufmerken, aber je öfter man mit den Pollen in Berührung kommt, desto gereizter reagiert der Körper, bis man irgendwann vielleicht gar nicht mehr aus dem Haus geht.

Cunningham ist einer der wenigen, der sich wissenschaftlich mit dem Thema "Wann nerve ich?" auseinandergesetzt hat. Um herauszufinden, wer am ehesten soziale Allergien auslöst, hat er in einer Studie 150 Menschen gefragt, welche Person sie durch Kleinigkeiten irremacht. 30 Prozent gaben an, dass ein Freund die größte Nervensäge sei, bei 18 Prozent war es der Lebensgefährte, weitere 18 Prozent nannten einen Kollegen, in 17 Prozent der Fälle war es der Vorgesetzte oder Lehrer, und – siehe da – 14 Prozent nannten ein Familienmitglied. Jeder Studienteilnehmer war in der Lage, auf Anhieb jemanden zu benennen. Das heißt, jeder reagiert mal sozial allergisch. Meine Reaktion ist normal.

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