Vergesst die Moral – Dreistheit siegt !

Wir sind umgeben von dreisten Menschen. Sie begegnen uns überall. Wenn sie uns beispielsweise nach einer 30-minütigen Irrfahrt um den Block den anvisierten, letzten freien Parkplatz vor der Nase wegschnappen, obwohl der Blinker bereits gesetzt war. Wenn sie sich an der Kinokasse vordrängeln und später dann im Saal in den unendlichen Weiten ihrer knisternden Chipstüte graben. Oder wenn sie neben uns auf der Parkbank lauthals in ihr, am Ohr festgetackertes Telefon blöken, während man sich selbst auf sein autogenes Training konzentriert.

Dreiste Menschen scheren sich nicht um das Unbehagen anderer. Sie scheuen sich nicht, Dinge zu tun, „welche die Ehrbarkeit und Wohlständigkeit beleidigen“, so erklärt es die Oeconomische Encyclopädie von Johann Georg Krünitz aus dem Jahr 1858. In ihrem Deutschen Wörterbuch beschreiben die Gebrüder Grimm die Dreistheit als „muthige entschlossenheit, sicherheit im benehmen“, aber auch als „anmaszung, unverschämtheit und übermasz an frechheit“. Und Goethe bemerkt derweil in seinem West-östlichen Diwan: „Alles weg, was deinen Lauf stört! / Nur kein düster Streben! / Eh er singt und eh er aufhört, / Muß der Dichter leben.“

Erst kommt das Fressen, dann die Moral, soll das heißen.

Nun scheint es so, als hätte sich die Moral überlebt. Sie ist das künstlich konstruierte Korsett, mit dem einst Friedrich Schiller sein Theater als „moralische Anstalt“ ausstaffierte, das den Menschen läutern, bessern, ja gar erziehen sollte. Seither nimmt uns dieses Korsett jedenfalls die Luft zu atmen, denn sie bringt uns offensichtlich um unseren eigenen Vorteil, so zeigt es später dann ja auch Molière. Dreiste Menschen kommen weiter – vielleicht nicht immer reinen Herzens, aber dafür in Siebenmeilenstiefeln. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns vermutlich eingestehen, dass die Weste unseres eigenen Ethos selbst nicht mehr ganz blütenweiß daherkommt. Wir sind längst Teil einer betreten schweigenden Mehrheit geworden, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihrem Glück selbst auf die Sprünge hilft und dafür den Bogen dessen, was ethisch korrekt oder gesetzlich erlaubt ist, großzügig überspannt.

Das Umgehen der Rundfunkgebühr, systematisches Schwarzfahren, Steuerbetrug oder das Klauen von Material am Arbeitsplatz – ist ja auch alles eher harmlos. Oder etwa doch nicht? Lässt sich ein schlechtes Gewissen tatsächlich so leicht beruhigen, oder wird unsere Gesellschaft zunehmend vom moralischen Verfall zersetzt? Und wenn ja, wie schlimm ist das?

Leave a Reply