«Unsere Endlichkeit ist mir sehr bewusst»

Die schwierigsten Entscheide fallen oft zu Hause, mitten in der Nacht. Ein Telefonanruf reisst Franz Immer aus dem Schlaf. Er erfährt, dass drei verschiedene Transplantationszentren ähnlich dringend Empfänger für das Herz eines hirntoten ­Organspenders hätten. Es folgen aufreibende Diskussionen mit den verantwortlichen Medizinern an den Zentren. Auch wenn man sich am Ende häufig findet: Letztlich muss Franz Immer entscheiden, wer das begehrte Organ erhält. An Schlaf ist danach nicht zu denken. Im Kopf geht er den Entscheid immer wieder von Neuem durch, überlegt, ob er wirklich richtig war und was das nächste Mal besser gemacht werden müsste. «In solchen Nächten nehme ich mir dann vor, lieber ein Bed-and-Breakfast zu eröffnen», sagt der 48-jährige Mediziner nur halb im Scherz.

An Franz Immer kommt in der Schweiz niemand vorbei, der mit Organverpflanzung zu tun hat. Auch in den Medien nicht. Kaum eine Diskussion am Radio oder Fernsehen über Hirntod, kaum ein Artikel zu Organmangel oder glücklichen Organempfängern, ohne dass der in Thun lebende Mediziner zu Wort käme. Ruhig und empathisch, jedoch nie übertrieben emotional, spricht er über traurige und hoffnungsvolle Schicksale, die manchen Zuhörern Tränen in die Augen treiben. Über ihn selber erfährt der Zuhörer dabei jedoch kaum etwas.

Beharrlich wie das menschliche Herz

Es ist ein heisser Sommernachmittag. Franz Immer sitzt in einem der neu bezogenen Büroräume von Swisstransplant in Bern. Seit Februar ist die Stiftung in einem Gebäude in Bahnhofsnähe angesiedelt. Dort hat es viel Platz und altehrwürdige Räume mit Wandstuckatur. Doch wegen der gnadenlosen Hitze läuft allen der Schweiss herunter. Von hier aus koordiniert die Stiftung schweizweit die Aktivitäten rund um die Transplantationsmedizin und die Zuteilung von Spenderorganen. Trotz der klimatisch schwierigen Bedingungen ist Franz Immer korrekt gekleidet, mit Seitenscheitel, freundlich, humorvoll und auch bei schwierigen Fragen nie um eine Antwort verlegen.

Franz Immer wuchs zweisprachig im Kanton Freiburg auf dem Land auf. Schon mit acht Jahren wusste er, dass er Arzt werden wollte, und hielt daran fest. Sehr zum Missfallen der Eltern, die das Metier kannten, die langen und unregelmässigen Arbeitszeiten, den Nachtdienst bis ins Alter. Immers Vater hatte als Landtierarzt eine eigene Praxis, die Mutter betreute die Administration. «Studiere etwas Vernünftiges, Recht oder Wirtschaft», sollen sie ihm geraten haben.

In der Schweiz war die Organzuteilung lange Zeit nicht landesweit geregelt. Jedes Zentrum transplantierte die Spenderorgane der eigenen Patienten gleich selber.

Doch Beharrlichkeit ist ein ausgeprägter Charakterzug von Franz Immer. Kurz vor der Matur meldete er sich heimlich fürs Medizinstudium in Freiburg an und wurde Arzt. Nach einem Abstecher in die Pädiatrie liess er sich am Ende zum Herzchirurgen ausbilden. An den Unispitälern Bern und ­Basel lernte und praktizierte Franz Immer sein Handwerk. Mit 40 Jahren hatte er fast 1000 Herzoperationen selbst geleitet, 4000 assistiert. Das Herz als raffinierte Druck-Saug-Pumpe fasziniere ihn bis heute, sagt Immer. Vielleicht erkennt er sich auch in der Beharrlichkeit des Organs unbewusst selbst wieder.

Doch dann, vor acht Jahren, kam es zum grossen Schnitt, mit dem der Herzchirurg seinem gelebten Kindheitswunsch ein Ende setzte. Franz Immer transplantierte sich sozusagen selber von Klinik und Operationssaal an den Schreibtisch und wurde Direktor von Swisstransplant. «Es brauchte Überwindung für den Wechsel in die rein administrative Tätigkeit», erinnert er sich. Doch hat er sich selber nie als Vollblutchirurgen gesehen. Ausserdem hatte Franz Immer das Gefühl, an eine Grenze zu stossen: «Die Herzchirurgie ist sehr kompetitiv, und die Optionen, sich zu entwickeln, sind beschränkt», sagt er.

Der Wechsel war sicher kein Fehler. Der direkte Patientenkontakt ist zwar weggefallen. Doch sein medizinisches Wissen bleibt gefragt. Und sein Talent für Kommunikation und Diplomatie kommt verstärkt zum Zug. So ist es zweifellos zu einem guten Teil diesen Fähigkeiten zu verdanken, dass in der Transplantationsmedizin heute ein offener Austausch zwischen den verschiedenen Fachleuten möglich ist. «Das war früher nicht so», sagt Franz Immer.

Meist mitten aus dem Leben gerissen

In der Schweiz war die Organzuteilung lange Zeit nicht landesweit geregelt. Jedes Zentrum transplantierte die Spenderorgane der eigenen Patienten gleich selber. Der Schritt im Jahr 2007 zur zentralen Lösung mit nationalen Wartelisten war für die Ärzte nicht einfach. «Anfangs war es jedes Mal eine sehr emotionale Angelegenheit, wenn ein Spenderorgan an ein anderes Zentrum ging», erinnert sich Immer. «Alle hatten das Gefühl, benachteiligt zu sein.» Doch inzwischen habe es einen Schulterschluss zwischen den verschiedenen Spezialisten gegeben.

Wenn Franz Immer über seine Arbeit spricht, klingt es bisweilen wie bei Spitzensportlern oder Fussballtrainern. Er lobt die Leistung seines Swisstransplant-Teams, betont das Engagement auf den Intensivstationen und in den Transplantationszentren. Seine eigenen Verdienste stellt er bescheiden in den Hintergrund. Er verschweigt jedoch nicht, dass der tägliche Umgang mit dem Sterben bei ihm Spuren hinterlässt. «Die Endlichkeit unseres Lebens ist mir sehr bewusst», sagt Immer. Organspender werden meistens unvermittelt mitten aus dem Leben gerissen. «Sie können in unglaublichsten Situationen ihr Leben verlieren, in einer Pfütze ertrinken, beim Skifahren stürzen, in einem Loch ersticken.» Die meisten Organspender sterben ­jedoch an einer schweren Hirnblutung: «Der ­typische Spender ist 52 Jahre alt. Er erwacht mit starken Kopfschmerzen, seine Frau schickt ihn zum Hausarzt, er geht aber nicht und bricht beim Kaffeeautomaten zusammen. Am Nachmittag ist er hirntot.»

Der typische Spender stirbt mit 52 an einer schweren Hirnblutung.

Immers Beruf bekommen auch seine Ehepartnerin und die drei Kinder zu spüren. «Meine Frau braucht Geduld – wie eigentlich alle Arztgattinnen», sagt der Swisstransplant-Direktor. Dabei hilft, dass sie als Projektmanagerin ebenfalls bei der Stiftung arbeitet. Wenn Franz Immer sieht, wie eines seiner Kinder im Sandkasten durch einen selbst gegrabenen Tunnel kriecht, wird ihm mulmig zumute. Unvermittelt muss er dann an ein Spenderkind denken, das vor einiger Zeit auf diese Weise erstickt ist.

Doch ausser in den dunklen Nächten nach schwierigen Entscheiden denkt Franz Immer überhaupt nicht ans Aufhören. «Die Spenderate in der Schweiz ist im europäischen Vergleich immer noch zu schlecht», hält er fest. Er möchte helfen, den vom Bundesrat verabschiedeten Aktionsplan als Swisstransplant-Direktor umzusetzen. «Das Ziel, die Zahl der gespendeten Organe um die Hälfte zu erhöhen, ist ehrgeizig, aber nicht unrealistisch», sagt er.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 21.08.2015, 17:53 Uhr)

Leave a Reply