Über die "nebulösen" Thesen von Thilo Sarrazin

Mit unerbittlicher Neugier hat sich der Buchautor, langjähriger "Zeit"-Redakteur und Nabokov-Herausgeber Dieter E. Zimmer in verschiedene Sachgebiete hineingeforscht: Psychologie, Biologie, Verhaltensforschung. Jetzt meldet sich Zimmer wieder zu Wort. Es geht um das von Thilo Sarrazin in die politische Debattenzone geholte Thema der Erblichkeit der Intelligenz. Zimmer will die finale "Klarstellung" bieten. Dass die Intelligenz von den komplex zusammenwirkenden genetischen Anlagen in erheblichem Maß mitbestimmt wird, sei heute wissenschaftlicher Nahezu-Konsens. Die Gegner Sarrazins bekümmerte der Stand der Forschung allerdings wenig. "Dies also schien die Meinung der SPD- Spitze zu sein: Weder Intelligenz noch irgendeine Charaktereigenschaft sind genetisch vorgezeichnet, Biologie spielt im Leben des Menschen keine Rolle."

Begabungen sind ungleich verteilt, nur bei der Erblichkeit von Intelligenz gibt es Streit. Denn so viel auch gegen den biometrischen Intelligenzbegriff eingewandt wurde, er misst zuverlässig Leistungen des abstrakten Denkens. Was ist Erblichkeit überhaupt? Zimmer stellt klar: "Erblichkeit ist eine Aussage über ein Kollektiv. Sie ist keine Aussage über einen Einzelmenschen und lässt auch keine Rückschlüsse auf ihn zu. Auf der Ebene des Individuums determinieren die Gene keinen festen IQ, sondern stellen ein Potenzial bereit. Aussagen wie 'Ich verdanke drei Viertel meiner Intelligenz meinen Genen' sind so unsinnig wie 'Mein Pro-Kopf-Einkommen ist 25 000 Euro'." Die Erblichkeit steigt in Umwelten, die die volle Entfaltung des Genotyps erlauben. Deshalb ist die Erblichkeit der Intelligenzunterschiede in der Mittel- und Oberschicht größer als in der Unterschicht, wo viele Kinder vernachlässigt, nicht wenige aber auch ehrgeizig gefördert werden. Könnte die wirtschaftliche Lage eines Landes etwas mit dem Durchschnitts-IQ seiner Bevölkerung zu tun haben? Auf jeden Fall korrelieren Armut und geringerer Durchschnitts-IQ; aber Zimmer betont, dass eine Korrelation keine Kausalität ist und vermutet einen Teufelskreis: Aufgrund der Armut könne das Begabungspotenzial nicht ausgeschöpft und das Bildungsniveau soweit erhöht werden, dass ein Entrinnen aus der Armut möglich wäre.

Erst auf Seite 217 wendet sich das Buch Sarrazins Thesen zu. Zimmer attestiert Sarrazin "nebulöse" Aussagen und "fahrlässige Impromptus", etwa in Sachen "jüdisches Gen". Viele Gegner Sarrazins suchten den Sieg auf Nebenschauplätzen. So fand der Hauptpunkt nur wenig Beachtung: Dass es angesichts der hohen Erblichkeit der Intelligenzunterschiede fatal ist, wenn in einer "Wissensgesellschaft" die Schichten mit durchschnittlich höherem IQ die Reproduktion weitgehend den "Bildungsfernen" überlassen. Diese Sorge wird durch Zimmers Klarstellung bestätigt. Denn "bisher lässt sich weder erzieherisch noch biologisch aus einem Minderbegabten ein Hochbegabter machen."

Man sollte die Begabungsunterschiede akzeptieren und den Benachteiligten durch Förderung helfen, denn selbst kleine IQ-Steigerungen machen für den Einzelnen einen Unterschied. Persönliche Lebensschicksale sind etwas anderes als statistische Durchschnittsberechnungen. Ein Bildungs- und Gleichheitsoptimismus aber, der mit den Tatsachen des Lebens in Widerspruch steht, kann zu nichts Gutem führen.

Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich? Rowolth, Reinbeck, 316 S., 19,95 Euro


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