Traumaambulanzen: Leben mit den Bildern im Kopf

Immer wieder verfolgen Thomas dieselben Bilder, spielen sich vor seinem inneren Auge ab. Er ist mit Tausenden Männern und Frauen eingepfercht. Links die hohen Mauern, rechts die Absperrzäune. Plötzlich bricht Panik aus, Thomas fällt auf den Boden. Er spürt Fußtritte auf seinem Rücken, kann Arme und Beine nicht mehr bewegen. Ich werde sterben, denkt er. Aus purem Überlebensinstinkt beißt er um sich, in nackte Waden, in Hosenbeine, in Füße. Es ist die Love Parade in Duisburg, im Unglücksjahr 2010 und Thomas ist mittendrin.

Bis heute kann er die klaustrophobische Enge nicht vergessen. Ein Mann hatte ihn schließlich gepackt und hochgezogen, Thomas kam mit Prellungen und Abschürfungen davon. Die körperlichen Wunden verheilten schnell, doch Thomas' Psyche litt mehr und mehr. Der junge Kfz-Mechaniker zog sich zurück, er sagte Treffen mit Freunden ab, mied es, unter Leute zu gehen. Irgendwann schaffte er den Weg zur Arbeit nicht mehr, weil er sich nicht mehr traute, in U-Bahnen oder Busse zu steigen.

Thomas meldete sich in der Traumaambulanz Essen, die Polizei hatte eine Hotline geschaltet und auf die Hilfe der Traumatherapeuten hingewiesen. Er wurde einer von 30 betroffenen Erwachsenen, die dort behandelt wurden.

Ulrike Schultheis, 41, Leiterin der Traumaambulanz am LVR-Klinikum Essen, erinnert sich noch gut an die Tage und Wochen nach dem Unglück. "Wir hatten hier viele zusätzliche Termine", sagt die Psychotherapeutin. Eine Patientin sah immer wieder denselben Mann vor sich, der hysterisch nach seiner Frau suchte. Andere konnten wie Thomas nur schwer in eine U-Bahn steigen, bekamen Schweißausbrüche, wenn es im Supermarkt voll wurde. "Viele fühlten sich ohnmächtig und hilflos, mit diesem Gefühl können Menschen nur schwer umgehen", sagt Schultheis.

Die meisten klagten über Schlafstörungen, über Nervosität und Überreiztheit. Viele reagierten übersensibel am Arbeitsplatz und bekamen Probleme mit Vorgesetzten. All das sind typische Anzeichen für eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Die wiederkehrenden Bilder des Unglücks dominierten das Leben der Betroffenen, sie mussten mit Hilfe der Therapeuten lernen, mit ihnen umzugehen.

Die Erinnerungen so schnell wie möglich aufarbeiten

Die Opfer aus der Duisburger Umgebung hatten dabei Glück im Unglück. Seit einigen Jahren verfügt Nordrhein-Westfalen über ein gut ausgebautes Netzwerk von Traumaambulanzen. Rund 110 Patienten werden alleine in Essen jedes Jahr betreut. Zu ihnen zählen Verkäuferinnen, die überfallen wurden, Beamte, die ihre erste Leiche im Dienst gesehen haben, Lokführer, denen ein Selbstmörder vor den Zug gesprungen ist, oder Vergewaltigungsopfer.

"Tragischerweise machen erst Unglücke wie das der Love Parade deutlich, wie wichtig solche Anlaufstellen sind", sagt Helmut Rüster, Sprecher des Weißen Rings, Deutschlands wichtigstem Opferverband. Nordrhein-Westfalen gelte als vorbildlich beim Aufbau von Traumaambulanzen. Von der Eifel bis ins Münsterland seien in den letzten Jahren mehr als 20 Einrichtungen geschaffen worden.

Zu verdanken ist das auch dem Psychologen Gotthilf Fischer. Er entwickelte an der Universität Köln Ende der neunziger Jahre ein Opferhilfemodell, nachdem er eine Versorgungslücke für Gewaltopfer ausgemacht hatte. Sein Credo: Je eher Betroffene mit Therapeuten das Erlebte aufarbeiten, desto größer ist die Chance, dass sie schnell wieder gesunden. Warten sie Wochen oder gar Monate, werden die Leiden eher chronisch und münden oft in die Arbeitsunfähigkeit. Auf dieser Idee basiert auch das Modell der Traumaambulanz.

Besonders im Osten Deutschland fehlen Angebote

In anderen Bundesländern, besonders im Osten Deutschlands, fehlt ein solches Angebot. Dabei sollte rein rechtlich die Versorgungslücke seit Jahren geschlossen werden. Nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) besitzen Opfer von Straf- oder Gewalttaten einen Anspruch auf therapeutische Behandlung - vor Jahren verpflichtete der Bund die Länder dazu, Traumaambulanzen einzurichten. Nordrhein-Westfalen wurde als Testland ausgewählt. Bayern, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Berlin haben inzwischen ebenso in einige wenige Zentren investiert. "Wir fordern ein flächendeckendes Netz in ganz Deutschland", erklärt der Weiße Ring. Alle Länder stünden laut dem Opferentschädigungsgesetz in der Pflicht, seelische Folgeschäden der Betroffenen zu verhindern.

In Nordrhein-Westfalen wurde in den vergangenen Jahren vor allem die Zusammenarbeit zwischen den Ambulanzen und der Polizei besser. "Es ist wichtig, dass Betroffene bei der Befragung richtig behandelt werden", sagt Therapeutin Schultheis. Um Gewaltverbrechen aufzuklären, gingen Polizisten oft sehr konfrontativ mit Opfern ins Gericht. "Das Problem ist, dass Betroffene oft Erinnerungslücken haben und deshalb widersprüchliche Aussagen machen", sagt Schultheis. Dabei helfen die kurzen Amnesien, mit dem Erlebten umzugehen: "Die Erinnerung kommt oft schrittweise zurück. So hat die Seele mehr Zeit, das Trauma zu verarbeiten", erklärt Schultheis.

Mit den Unglücksopfern der Love Parade haben Therapeuten viele Erinnerungslücken geschlossen. Die Erfahrungen bestätigen den Ansatz des Kölner Psychologen Fischer: "Bei vielen reichten wenige Therapiestunden, und sie konnten danach zum Alltag zurückkehren, auch wenn das Unglück immer ein Teil von ihnen bleiben wird", sagt Schultheis. Bei Thomas war der Fall etwas komplizierter. Er litt schon vor der Katastrophe unter Depressionen und hatte Konflikte mit dem Arbeitgeber, die sich nach dem Unglück intensivierten. Als er durch eine Fortbildungsprüfung fiel, entschied er sich für einen mehrwöchigen Klinikaufenthalt. Schultheis und ihre Kollegen begleiteten den jungen Mann. Heute ist er auf dem Weg der Besserung.

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