Tischgespräch: Steven Pinker – Nachrichten Print – DIE WELT – Kultur – WELT ONLINE

Steven Pinker ist seit dem 4. Oktober auf Tournee: Boston, New York, Hartford, Washington, Kansas City, Minneapolis, Chicago, Flagstaff, Los Angeles, San Francisco, Berkeley, Seattle, der Googleplex in Mountain View, London, Bristol, Oxford. Berlin ist die 17. Stadt in vier Wochen. Von hier geht es nach Wien, dann in die kanadische Heimat: Montreal, Ottawa, Toronto.

Das klingt eher nach Rockstar als nach einem Akademiker mit dem Schwerpunkt Psychologie der Sprache. Aber der schmächtige Harvard-Professor mit der Simon-Rattle-Lockenpracht ist mit Bestsellern wie "Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur" und "Wie das Denken im Kopf entsteht" tatsächlich zu einem Star geworden. Nun ist er unterwegs, um sein neuestes Buch vorzustellen. Auf Englisch heißt es nach einem Zitat von Abraham Lincoln "The Better Angels of Our Nature". Auf Deutsch: "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit". Was eine Geschichte voller Mord und Totschlag suggeriert, während Pinkers Buch in Wirklichkeit mit der guten Nachricht aufwartet, dass wir im Laufe des Zivilisationsprozesses die Gewalt immer besser eindämmen konnten und heute in einem unfassbar friedlichen Zeitalter leben. Aber in Deutschland müssen selbst frohe Botschaften als Apokalypse daherkommen, um sich verkaufen zu können.

Pinkers Verlag hat ihn im "Savoy"-Hotel untergebracht, und so scheint es am einfachsten, ihn im Hotelrestaurant zu treffen, obwohl es in dieser Ecke des alten West-Berlin berühmtere Restaurants gibt, wie die allerdings kulinarisch unterambitionierte "Paris Bar", und bessere, wie das "Ottenthal". Dem Literaturbetrieb gefällt das Hotel, weil Thomas Mann es schon "sympathisch und behaglich" fand, und weil es im Zeitalter der weltweiten Hotelketten den Charme eines Familienunternehmens ausstrahlt. Das Restaurant ist, sagen wir, ein Geheimtipp. Jedenfalls bleibt es während unseres Gesprächs ziemlich leer.

Pinker bestellt als Vorspeise Ikarimi Räucherlachsrückenfilet mit seinem Kaviar, Kräuterschmand und Blinis, als Hauptgang auf der Haut gebratenes Saiblingsfilet mit Rotweinsauce, Blattspinat und gefüllten Hummernudeln. Dazu trinkt er Berliner Pilsener vom Fass. Ich wähle Petersilienwurzelschaumsuppe mit Garnelenschwänzen und auf der Haut gebratenes Zanderfilet mit Rieslingsauce, grünem Spargel, Schluppen und Kartoffel-Lauch-Püree, dazu den Hausriesling. Als Amuse geule gibt es eine Quiche lorraine, was der Ober "lorrain" ausspricht.

Zunächst reden wir über Pinkers Agenten John Brockman. Er hat die "dritte Kultur" ausgerufen, die Überwindung des Abgrunds zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, und hat auch andere Stars wie den Evolutionsbiologen Richard Dawkins und den Mathematiker Freeman Dyson unter Vertrag. Pinkers Ehefrau, die Philosophin Rebecca Goldstein, hat Brockman in ihrem Roman "36 Argumente für die Existenz Gottes" als "Sy Auerbach" verewigt. "Ist er Showman oder Schamane?" fragt sie dort. "Etwas von beiden ..." "Und Cheerleader und Impresario", fügt Pinker hinzu. In Goldsteins Roman kommt als Gegenpart ein gewisser "Jonas Elijah Klapper" vor, "eine Harold-Bloom-Gestalt", wie Pinker erläutert, "ein weitgehend inhaltsfreier Geisteswissenschaftler, ein Guru und Orakel. George Steiner ist auch so einer." Klapper-Bloom-Steiner verkörpert all das, was den Vertretern der "dritten Kultur" zuwider ist. Frankreich, so Pinker, sei immer noch im Banne solcher Meisterdenker. "Früher musste ein Student die Sorbonne besuchen, wenn er die neuesten Ideen kennenlernen wollte. Das ist vorbei. Frankreich stagniert intellektuell. Es ist immer das letzte Land, das naturwissenschaftliche Bücher aus Amerika übersetzt. In der akademischen Welt herrschen immer noch Freud, Lacan und die Poststrukturalisten, und meine Kollegen, die empirische Psychologie betreiben, werden angefeindet."


Meine Suppe schmeckt eher nach Milchschaum als nach Petersilienwurzeln. Aber der Riesling ist schön knackig. Pinker gefällt der Lachs. Er berichtet von den Diskussionen bei seinen Lesungen: "Typischerweise kommen linke Kritiker mit metaphorischer Gewalt, um zu beweisen, dass sich nichts zum Besseren verändert hat: Was ist mit der wirtschaftlichen Ungleichheit? Mit dem Raubbau im Regenwald? Mit Cybermobbing und verbaler Gewalt? Ich sage, diese Dinge finde ich schrecklich, aber sie sind nicht die Schlacht an der Somme. Schon allein, dass sich die Leute darüber echauffieren, zeigt, dass die physische Gewalt zurückgegangen ist."

Unter Linken hat sich Pinker mit seinem Buch "Das unbeschriebene Blatt" unbeliebt gemacht, wegen seines Beharrens darauf, dass es so etwas wie eine in der Gehirnstruktur verankerte menschliche Natur gibt. Das widersprach der linken Hoffnung, einen neuen Menschen durch Erziehung schaffen zu können. Auch das neue Buch ärgert viele Linke, weil Pinker darin die glorreichen Sixties als eine Periode des zivilisatorischen Rückschritts bezeichnet und die antiautoritäre, antibürgerliche "Gegenkultur" für den gleichzeitigen Anstieg der Gewaltkriminalität verantwortlich macht, die mit dem Niedergang der Gegenkultur auch zurückging. "Ich fühle mich wie ein Verräter meiner Generation", sagt Pinker. "Aber die Zahlen sind da."

Noch mehr ärgert Pinkers neues Buch Konservative und Kulturpessimisten, die ihn als Verbündeten gesehen hatten. Denn Pinker bejaht den Gedanken des Fortschritts und lobt nicht nur den starken Staat, gute Manieren, den Kapitalismus und den Handel als gewaltmindernde "Engel", sondern auch die Aufklärung, den Kampf gegen religiöse Vorurteile und die von den 68ern in Gang gesetzte "Bürgerrechtsrevolution", die zum Rückgang der Gewalt gegen ethnische Minderheiten, Frauen, Schwule und Kinder geführt habe. "Auch die Rechten fühlen sich von mir verraten, aber die Zahlen sind eindeutig. Mit Zahlen haben viele Menschen ihre Schwierigkeiten. Das hat auch mit der Arbeitsweise unseres Gehirns zu tun. Man muss das Rechnen lernen wie das Lesen. Aber viele Geisteswissenschaftler sind stolz darauf, mathematische Analphabeten zu sein."

Beim Hauptgang, einem exakt gebratenen Fisch, dessen Beilagenfülle freilich das Diktum "Weniger ist mehr" bestätigt, diskutieren wir über die pessimistische Wende der einstmals fortschrittsoptimistischen Linken. Ich sage, dass ich "Das Unbehagen an der Kultur" von Sigmund Freud als Schlüsseltext dieser Wende verstehe, weil Freud jeden Fortschritt der Zivilisation mit einem Zuwachs an Repression erkauft sehe, was wiederum - durch die "Wiederkehr des Verdrängten" - den Zivilisierungsprozess gefährdet. Pinker widerspricht: "Freud war viel konservativer als viele der von ihm inspirierten Schulen wie die von Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und Paul Goodman, die in der Verdrängung etwas Schlechtes, in der sexuellen Energie per se etwas Gutes sahen. Ich denke, Freud fand die Repression gut.

Der Soziologe Norbert Elias postulierte mit Rückgriff auf Freud einen Zivilisierungsprozess durch Einübung der Selbstbeherrschung. Und zu meiner eigenen Überraschung, weil ich kein Freudianer bin, entdeckte ich in den experimentellen Arbeiten Roy Baumeisters eine Bestätigung Freuds. Nicht des ganzen Theoriegebäudes, mit dem Ur-Vatermord, dem Ödipuskomplex und so weiter. Aber der Gedanke, dass wir Triebe haben, die, wenn wir sie ausagieren würden, asozial wären, und dass es einen Teil des Gehirns gibt, der sie unterdrückt und dabei Energie verbraucht - diesen Mechanismus hat Baumeister experimentell nachgewiesen, und deshalb nennt er diese Funktion des Gehirns mit einer Verbeugung vor Freud das 'Ego'."

Über Kaffee kommt Pinker auf die Schizophrenie der Linken zurück, die zwar Charles Darwin gern gegen die Religion ins Feld führt, sich aber weigert, die Schlussfolgerungen des Darwinismus auch für die Menschen zu ziehen, nämlich dass es so etwas gibt wie eine angeborene menschliche Natur.

Dabei war es ein Linker, wende ich ein, der vor über 40 Jahren mit seiner Theorie des Spracherwerbs den Beweis für die Existenz angeborener psychischer Strukturen lieferte, nämlich der Psycholinguist Noam Chomsky. "Chomsky war wichtig, auch für meine Karriere", sagt Pinker. Als Postgraduierter habe er bei einem Chomsky-Schüler studiert. Zwar sei Chomskys politisches Denken "dämonologisch" - an allen Weltübeln seien die USA schuld, "was auch nur eine Variante des amerikanischen Exzeptionalismus ist". Aber seine generative Transformationsgrammatik habe gezeigt, "dass zur menschlichen Natur ein Regelsystem gehört, das uns ermöglicht, unerhörte, also bisher nie gehörte Sätze durch die Kombination alter Wörter zu generieren. Und von dieser Erkenntnis ist es nur ein Schritt zur Überlegung, dass es zu unserer Natur gehört, neue Ideen generieren zu können, einen unendlichen Raum möglicher Ideen. Und es ist dieser kreative, ergebnisoffene Prozess, der die Kompatibilität der menschlichen Natur mit dem menschlichen Fortschritt begründet."

Die Geburt einer neuen Linken aus dem Geist der Grammatik. Eine gute Schlusspointe. Und was das Essen betrifft: Wenn man einen derart anregenden Gesprächspartner hat wie Steven Pinker, stört es nicht weiter.

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