Tick, Marotte oder Zwangsstörung

Fast jeder Mensch hat Marotten und Macken, die ihn durch den Alltag begleiten. Doch wenn sie für die Betroffenen zur Qual werden, sprechen Ärzte und Psychologen von einer Zwangsstörung.

Die eine trägt stets eine Packung Desinfektionstücher mit sich, um selbst in frisch geputzten Hotelzimmern eigenhändig Bakterien zu beseitigen. Der nächste verlässt nicht das Haus, ohne mehrfach zu kontrollieren, ob der Herd und das Bügeleisen ausgeschaltet sind. Und es gibt Menschen, die nach jedem Einkauf die Etiketten von Konservendosen reißen oder vor dem Zubettgehen exakt sechs Mal das Licht im Schlafzimmer aus und wieder anschalten.

Wie eine Zwangsstörung definiert wird

"Bei der Abgrenzung zwischen einer Marotte und einer Zwangsstörung sind zwei Faktoren wichtig: Der Leidensdruck und das, was man eine Funktionsbeeinträchtigung nennt", sagt Peter Falkai, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Göttingen.

Zur Verdeutlichung nennt der Experte das Beispiel eines Mannes, der sicher gehen möchte, dass seine Wohnungstür verriegelt ist. Wenn der Mann die Tür gründlich abschließt und anschließend noch einmal am Türknauf ruckelt, leidet er nicht unter seinem Verhalten. Schwierig wird es, wenn das Kontrollritual jeden Morgen immer mehr Zeit verschlingt und intensiver ausfällt, sodass der Mann auf dem Weg zur Arbeit umkehren muss, um zu überprüfen, ob tatsächlich alles ordentlich verriegelt ist. Dann lässt sich der Alltag mit der Zwangserkrankung kaum noch bewältigen. Auch Beziehungen leiden, wenn Kontrollsucht oder Putzwahn immer mehr Raum einnehmen.

Nicht wenige leben jahrelang mit merkwürdigen Verhaltensweisen. In einer Lebenskrise jedoch bricht plötzlich die Zwangserkrankung aus, die in schlimmen Fällen von einer permanenten Anspannung, von Zittern, Schweißausbrüchen und Angstattacken begleitet wird.

Manche Zwangsstörung ist besonders abwegig

Dass ihr Handeln sinnlos oder übertrieben ist, das wissen die Betroffenen meist. Trotzdem können sie sich nicht gegen ihre innere Stimme wehren, die ihnen sagt, sich zwei Mal täglich die Haare zu waschen oder jedes Essen in winzige Streifen zu schneiden. "Solche Verhaltensweisen helfen den Betroffenen zunächst, mit ihren eigenen Ängsten zurechtzukommen. Kontrollfreaks sind außerdem nicht selten Menschen, die in ihrem tiefsten Inneren verunsichert sind", sagt Prof. Falkai.

Es gibt jedoch auch Zwangserkrankungen, die völlig abwegig wirken. Ein typischer Fall: Eine Frau kann an keiner Fußmatte vorbeigehen, ohne erst den linken und dann den rechten Fuß auf die Matte zu stellen. "Solch ein Verhalten hat keinerlei ersichtlichen Nutzen und ist für die Betroffenen zusätzlich stigmatisierend", sagt Falkai.

Chancen einer Verhaltenstherapie

Ähnlich wie Süchtige müssen viele Zwangserkrankte ständig die Dosis steigern: Ihre Rituale werden zeitaufwändiger und intensiver. Die anschließende Befriedigung und Erleichterung hält nur noch kurz an. Doch aus dem Teufelskreis auszusteigen, fällt schwer, denn in gewisser Weise profitieren Zwangserkrankte auch von ihrem Leiden: Es gibt ihrem Leben Struktur. Negative Erlebnisse und Gefühle wie Niedergeschlagenheit können sie erfolgreich verdrängen.

Leichtere Zwangserkrankungen lassen sich oft erfolgreich mit einer Verhaltenstherapie behandeln. Die Frau, die zwanghaft auf Fußmatten tritt, würde mehrfach in Begleitung eines Therapeuten Wohnhäuser besuchen, bis sie es schafft, die Flure geradeaus zu laufen. Wer sich vor Keimen fürchtet, müsste beispielsweise zunächst einmal Flächen berühren, vor denen er sich ekelt. Zum Ende der Therapie werden dann die Hände in Matsch gebadet – und dürfen minutenlang nicht abgewaschen werden. Und dann passiert das, von dem die Zwangserkrankten, insgeheim immer wussten, dass es passieren würde: nichts.

"Oft reichen wenige Stunden, um das Problem in den Griff zu bekommen", sagt Prof. Falkai. "Allerdings ist die Konfrontation mit den Urängsten für die Betroffenen durchaus hart." Bei schweren Zwangserkrankungen sind längere Therapien nötig, die mitunter medikamentös begleitet werden. Grundsätzlich rät der Experte allen, die ihr Verhalten nicht immer im Griff haben: "Man muss sich seinen Zwängen stellen und sollte sich auf keinen Fall mit ihnen verstecken."

Merkmale einer möglichen Zwangsstörung

  • Die Zwangshandlungen und -impulse treten seit mindestens zwei Wochen regelmäßig und fast jeden Tag auf.
  • Der Alltag und die Beziehungen zu anderen Menschen werden durch das Zwangsverhalten beeinträchtigt. Plötzlich fällt es zum Beispiel schwer, Verabredungen pünktlich einzuhalten, weil man lange den Zustand der Wohnung kontrolliert. Oder man hat keine Lust mehr auf Besucher, weil sie Dreck in die Wohnung bringen.
  • Die Zwangshandlungen werden als quälend, lächerlich oder sinnlos empfunden. Oft werden sie vor anderen verborgen.
  • Gibt man den Zwangsimpulsen nicht nach, dann fühlt man sich unruhig und ängstlich.

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