Therapeuten mit Fell und Borsten – Tages

Der erste Eindruck: Wir befinden uns hier in einem spektakulären Hotelkomplex in Kalifornien, vielleicht an der Küste von Big Sur – wenn da nicht ab und zu ein Mensch im Rollstuhl vorbeikäme. Die Architekten Herzog de Meuron haben die Rehab Basel vor mehr als zehn Jahren als ein Dorf angelegt, mit Plätzen, Wegen und Höfen. Eine grosszügige, offene Anlage, nur zweigeschossig, viel Holz. Die Klinik ist bekannt dafür, dass sie schweizweit die schwersten Fälle von Hirnverletzten aufnimmt. Sie kommen aus den Akutspitälern und bleiben hier bis zu 18 Monate in Pflege, in ihren Zimmern können sie durch ein rundes Dachfenster über dem Bett in den Himmel sehen. Da Hirn- und Rückenmarkverletzte in ihren Bewegungen extrem eingeschränkt sind, muss man die Aussenwelt zu ihnen bringen, lautet der Tenor.

Zu dieser Welt gehören seit letztem Sommer auch viele Tiere. Nicht die obligaten Kleinpferde aus der Hippotherapie, auf denen Gleichgewichtsstörungen ins Lot gebracht werden. Das gibts in der Rehab schon lange. Es ist eine ganze Arche voll, die sich auf dem 2300 Quadratmeter grossen Gelände, dem Therapie-Tiergarten, tummelt. Das Ganze entspringt einer mutigen Idee und dem in Basel einmaligen Spenderwillen: 1,7 Millionen Franken schoss der Basler Mäzen und Unternehmer Matthias Eckenstein in die Anlage ein. Schafe, Zwergziegen, Hühner, Katzen sowieso – die Gehege sind vom Feinsten. Esel, Kaninchen, Vögel, Meersäuli und Minipigs bevölkern Wiesen und Ställe, Tierpflegerinnen und eine Trainerin kümmern sich um die Menagerie.

Konzentration steigern

Fréderik und Pingueldy, die beiden Minischweine, haben sich zu den absoluten Stars des Parks entwickelt, «Fréderik kann mit der Schnauze sogar Teppiche aufrollen», sagt Karin Hediger, die das Projekt über mehrere Jahre wissenschaftlich begleitet. «Die Patienten finden die Pigs unglaublich lustig.» Doch die sonnigen Anekdoten sind nur das Sahnehäubchen auf dieser Art der Therapie. Hinter der Sache stehe grosser Ernst und eine hohe Erwartung, sagt Margret Hund-Georgiadis, die Chefärztin. «Ich will hier keinen Streichelzoo», machte sie bereits vor einem Jahr klar, als sie ihren Posten antrat und von der Zürcher Höhenklinik in Wald nach Basel wechselte, «die Krankenkassen und Patienten wollen Resultate sehen.»

Weil die Forschungslage noch sehr dünn ist, stellte sie der Therapie von Anfang an Experten der Universitäten Basel und Zürich zur Seite, einer von ihnen ist der bekannte Katzenforscher Dennis Turner. Ganz konkret erwartet man, dass die Patienten rascher wieder sprechen können, längeren Blickkontakt mit ihrem Gegenüber halten, gezieltere Bewegungen machen und psychisch stabiler sind. «Leider kann ich Ihnen noch nicht sagen, dass die Heilung dank der tiergestützten Therapie um 30 Prozent rascher verläuft, obwohl ich dies gern würde», sagt die Chefärztin. «Aber die Erfahrungen nach den ersten Monaten sind ermutigend.»

Viele Patienten befinden sich im Wachkoma und können sich nur für sehr kurze Zeit auf etwas konzentrieren, dann sind sie schon wieder in ihrer eigenen Welt. Wenn aber ein Tier ihre Aufmerksamkeit fesselt, und dies kann man bei fast allen Patienten feststellen, dann gelingt es, das Zeitfenster der Konzentration zu erweitern. Genau in dieses Fenster hinein wird dann die Logopädie, die Physiotherapie oder die Ergotherapie eingearbeitet. Die grunzenden und quiekenden Schweinchen etwa helfen bei Sprechübungen, denn es macht den Patienten unglaublich Spass, sie nachzuahmen – viel mehr Spass als eine Trockenübung in Logopädie auf dem Zimmer.

Mit Hühnern wiederum lernen sie uns simpel erscheinende Körperfunktionen wie das Blasen wieder: Ins Gefieder pusten, sehen, wie sich die Federn bauschen und verändern, ist für einen Querschnittgelähmten ein Erfolg. Ziegen und Esel kann man streicheln und bürsten, lange Bewegungen mit dem Arm, die für die Patienten auch Sinn ergeben, können so geübt werden. Die jeweiligen Talente und Eigenschaften der Tiere zeigen, weshalb es keine Show ist, dass im Therapiegarten so viele verschiedene Arten unterwegs sind.

Die grösste Überraschung sei der kastrierte Ziegenbock Ramon, sagt Karin Hediger, «er ist der grösste Schmuser, den wir haben.» Wie viele andere Tiere ist auch er eine Handaufzucht und war es von klein auf gewohnt, auf dem Schoss von Menschen zu sitzen. «Das Aufsteigen müssen wir ihm jetzt wieder abgewöhnen», meint Hediger. Im Wohnzimmer von Nicole Furrer, der Betriebsleiterin, wohnt zeitweise eine Schar von Hühnern, Küken und Meerschweinchen, die sich an die Anwesenheit von Menschen gewöhnen sollen. Anstrengend sei das, aber auch erfüllend, meint Furrer. Doch die Sicherheit der Patienten muss gewährleistet sein, «die Tiere gehen bei uns quasi durch den TÜV», betont die Chefärztin.

Petersilie für Lola

Neben der körperlichen Rehabilitation helfen die Tiere auch, die soziale Integration zu beschleunigen, denn Tiere sind vorurteilsfreie Partner, ihnen ist es gleichgültig, ob jemand im Rollstuhl sitzt oder nicht. Und Tiere fordern nichts. Was jedoch bedeutet, dass man sie zu nichts zwingt und ihnen während der Therapie auch die Freiheit lässt, sich zurückzuziehen. Zum Beispiel dem Meersäuli Lola, das zusammen mit seinen Gspäändli Coco und Lulu die Ergotherapie von Patientin S. F. unterstützt. In diesem Moment hat Lola einfach keine Lust mehr, am Peterlistängel zu knabbern, den ihr S. F. hinhält.

Die 35-Jährige hatte einen schweren Motorradunfall, nach einem Schädel-Hirn-Trauma sitzt sie im Rollstuhl und befindet sich nun schon mehrere Monate in der Rehab. Sie kann nicht sprechen, sich kaum bewegen. Ihre Fortschritte seien klein, aber feststellbar, sagt die Therapeutin, die zweimal pro Woche für eine halbe Stunde mit ihr zu den Meerschweinchen fährt und dort mit ihr bestimmte Bewegungen übt. S. F. kann ihre Hände nun immerhin schon millimeterweit öffnen, sie sind nicht mehr ganz so spastisch nach innen gerollt wie noch vor Wochen. Man merkt, die Patientin möchte das kuschelige, herzige Meersäuli, das ihr da auf der Decke auf dem Schoss sitzt, anfassen, streicheln – sie ist hoch motiviert, das sieht die Therapeutin an der Mimik, aber es geht einfach noch nicht.

Nur die Finger, die vorher verkrampft waren, öffnen sich einen Spalt weit, halten den Peterli, an dem Lulu herumzupft. Und in diesem Moment geht ein winziges Lächeln über das Gesicht der Kranken. Mit dem Tier scheint sie ganz im Hier und Jetzt zu sein, ganz bei sich. Ein hartes, bitteres Schicksal, aber ein Bild, das zuversichtlich stimmt.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 21.05.2014, 07:11 Uhr)

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