Tabu-Thema Magersucht








Foto: dapd



Ernüchternde Zwischenbilanz eines Programms gegen Essstörungen

Chemnitz/Dresden. Als "Freie Presse" vor einem Jahr über das ehrgeizige Projekt der TU-Psychologen gegen Essstörungen berichtete, meldete sich eine Leserin. Sie wollte anonym bleiben, da sie selbst von Magersucht betroffen ist. "Ich weiß, wie verheerend die Krankheit ist und ich weiß, dass niemand gern darüber redet", so die Erzgebirgerin. Zwar bezweifelte sie, ob das, was die Dresdner machen, "so richtig sei", betonte aber, dass mehr gegen diesen "Wahnsinn" getan werden müsse. Denn viele in der Umgebung der Betroffenen würden die Augen vor dem Problem verschließen.

Das ist auch die erschreckende Erfahrung, die die Dresdner Experten im Vorjahr machen mussten. "Es ist erstaunlich, wie einige Eltern reagiert haben", sagt Ulrike Völker vom Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden. Und nennt Antworten, die Eltern gegeben haben: "Für so 'nen Scheiß hab' ich keine Zeit." oder "Das wächst sich schon wieder zurecht." Die Gründe seien oft ziemlich harsch vorgetragen worden.

Trotzdem - oder gerade deswegen - lassen die Psychologen nicht locker. Denn die Praxis zeigt, wie not ihre Arbeit tut: Etwa ein Prozent der Jugendlichen in Sachsen erkrankt im Jahr an einer Magersucht, so das Gesundheitsministerium.

In Deutschland leiden rund 100.000 Menschen an der Krankheit. Deshalb sollte das Thema immer wieder auf der "Agenda stehen", sagt auch Gesundheitsministerin Christine Clauß (CDU) und unterstützt somit die Bemühungen der Psychologen. "Die vielerorts anzutreffende Unbekümmertheit beunruhigt mich. Denn nach wie vor ist Magersucht eine schwer wiegende psychische Erkrankung mit einer hohen Sterblichkeitsrate", so die Ministerin.

Die TU-Psychologen suchen weiter nach Teilnehmern für das "familienorientierte" Vorsorgeprogramm gegen die Magersucht (Anorexia Nervosa). Bei der Studie werden zunächst 11- bis 17-jährige Mädchen und deren Eltern gebeten, einen Fragebogen auszufüllen. "Wenn ehrlich geantwortet wird, können wir feststellen, ob ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Magersucht besteht", sagt Ulrike Völker. Die Anzeichen dafür sind unterschiedlich. Achtung ist geboten wenn die Tochter etwa auffallend schlank ist, augenscheinlich abgenommen hat, Mahlzeiten auslässt, Diäten macht, exzessiv Sport treibt oder sich übermäßig um ihre Figur sorgt.

Die Auswertung der Fragebögen bringt solche Dinge ans Licht. Bestätigt sich das Magersucht-Risiko, erhalten die Eltern die Möglichkeit, an einem internetgestützten Vorsorgeprogramm teilzunehmen. Im Programm "E@T" (Eltern als Therapeuten) erfahren Mutter und Vater unter anderem den Unterschied von normalen und problematischen Essverhalten, bekommen Tipps, um die Kommunikation mit ihren Töchtern zu verbessern. Bei einem Online-Diskussionsforum gibt es die Möglichkeit, mit anderen Eltern anonym in Kontakt zu treten. Es gibt auch einen Online-Fragebogen. Eltern, die sich Sorgen um die Tochter machen, können also von überall her an unserem Projekt teilnehmen.

Mehr als 6000 Fragebögen haben die Psychologen bisher in mehr als 40 Schulen verteilt. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass bei rund 15 Prozent der Befragten ein erhöhtes Risiko für eine Magersucht vorliegt. Bis heute wurden 148 Risikomädchen identifiziert. Die tatsächliche Zahl liege wohl viel höher. Denn drei Viertel der verteilten Fragebögen wurde gar nicht erst ausgefüllt.

Schockierend sei zudem, dass die Hälfte der Eltern, bei deren Kind ein Risiko auf Magersucht festgestellt wurde, nicht an einem diagnostischen Gespräch interessiert waren. Meinungen wie "Ich war in ihrem Alter genauso dünn." oder: "Das liegt bei uns in der Familie, in den Genen." beweisen, wie leichtsinnig mit dem Thema umgegangen werde. Einige Eltern hätten Angst, durch falsches Handeln "schlafende Hunde zu wecken". "Leider werden viele Mütter und Väter erst aktiv, wenn ihr Kind deutlich an Gewicht verloren hat, mitten in der Essstörung steckt. Der Weg zurück ist oft schwierig und mit extremen Leiden verbunden."

►www.eatinfo.psych.tu-dresden.de

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