Streit um neue Bibel der Psychologen


Oft ist die Frage, ob jemand psychisch erkrankt ist oder nicht, schwierig zu beantworten. Das Handbuch für psychische Störungen, das dabei helfen soll, ist unter Experten umstritten. Foto: istock

Trier. Vor acht Wochen hat Bettina S. (Name geändert) ihren Mann verloren. "Erst habe ich nur funktioniert, erst später realisiert, was wirklich passiert ist", sagt die 50-Jährige. Sie trauert - weint, ist mal antriebslos, mal wütend auf das Schicksal.

Laut dem neuen DiagnoseHandbuch für psychische Störungen (Extra) könnte ihre Trauer als krankhafte Depression eingestuft werden. Und das bereits zwei Wochen nach dem Tod des Partners. "Das ist eine Unverschämtheit, Trauernde nach so kurzer Zeit als depressiv abzustempeln", sagt die Witwe. Für sie ist es "das Normalste der Welt", zu trauern. "Menschen trauern unterschiedlich, auch unterschiedlich lange", sagt Bettina S. Sie vermutet ein Geschäft der Pharmaindustrie hinter der für Psychiater und Psychologen empfohlenen Herabsetzung der Grenze von zwei Monaten auf nun zwei Wochen.

Noch vor Jahren war gar das Trauerjahr gesellschaftsfähig, schwarze Kleidung signalisierte Dünnhäutigkeit. "Da werden Pillen verschrieben und Profit mit der Trauer gemacht", sagt Frau S. empört. Trauerbegleiterin Maria Knebel aus Kenn (Kreis Trier-Saarburg) findet die Entwicklung "furchtbar". Wer Trauernde zu psychisch Kranken abstempele, schließe sie aus der Gesellschaft aus und die Gesellschaft entziehe sich der Verantwortung, ihnen beizustehen.

"Dieser Punkt des neuen DSM-5 regt mich auch auf", sagt Alexander Marcus, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Trierer Mutterhaus. Verliere man eine wichtige Bezugsperson oder auch ein Haustier, sei eine Trauerreaktion normal und könne nach 14 Tagen nicht mit einer Depression gleichgesetzt werden.

Wolfgang Lutz, Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Trier, sagt, dass Trauernde, die in der Psychotherapieambulanz an der Trierer Uni Hilfe suchten, sicher nicht nach zwei Wochen die Diagnose "Depression" erhielten. Dagegen sprächen die Wartezeiten von fünf bis sechs Monaten. Psychologe Lutz sieht in der Neuauflage des Diagnose-Handbuchs ebenfalls die Gefahr, dass nun häufiger psychische Erkrankungen diagnostiziert werden könnten, normales Verhalten pathologisiert werde.

Warnung vor Panikmache



Allerdings warnt der Professor vor Panikmache. "Neben den Diagnose-Systemen nutzen wir bei der Klärung, ob und welche psychische Störung vorliegt, auch andere Instrumente wie Fragebögen oder Videoaufnahmen", sagt er. Auch Psychiater Marcus glaubt nicht, dass es zu inflationären Diagnosen psychischer Erkrankungen kommen wird.

Bedenklich findet er allerdings, dass das Spektrum des Autismus - das ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die im Kleinkindalter beginnt - zusammengefasst wird: Das Asperger-Syndrom wird es nicht mehr geben. Dafür aber eine bipolare Störung bei Kindern - gemeint ist ein Wechsel zwischen Hochgefühl und Depression. "Da wird eine Diagnose vergeben, die es nicht gibt", sagt Marcus. Er jedenfalls habe sie bei Kindern noch nicht feststellen können. Auch, ob man bei Kindern und Jugendlichen, die Wutanfälle hätten, reizbar bis hin zu depressiv seien, DMDD (Disruptive Mood Dysregulation Disorder, auf Deutsch etwa Regelungsstörung bei extremen Stimmungsschwankungen) diagnostizieren könne, sei fraglich.

Wie die Trauernde Bettina S. vermuten viele Kritiker, dass die Interessen der Pharmaindustrie mit den Empfehlungen des umstrittenen Handbuchs verflochten sind. Stefan Hofmann, Psychologie-Professor an der amerikanischen Boston University, hat am neuen DSM-5 mitgearbeitet. Er sagt zu dem Vorwurf: "Es wurde überprüft, wer stark von der Pharmaindustrie gesponsert wurde. Das war ein Ausschlusskriterium, um am neuen DSM mitarbeiten zu können."

Auch Marcus sieht eine große Gefahr darin, "dass solche Systeme missbraucht werden könnten, um eigene Interessen zu verfolgen." Dabei denkt er weniger an die Pharmaindustrie als an Selbsthilfegruppen. Denn das DSM-5 spiele auch in der Rechtsprechung und in Versicherungsfällen eine Rolle. Auch Trierer Studierende werden sich mit dem Handbuch auseinandersetzen. "Es wird in Seminaren und Vorlesungen Thema sein", sagt ihr Professor Wolfgang Lutz.

Extra

Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (deutsch: Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) ist das wichtigste psychiatrische Handbuch in den USA. 1952 erschien es zum ersten Mal, Ende Mai dieses Jahres in der fünften Version. Es hat großen Einfluss auf die Diagnostik von psychischen Störungen in Deutschland. kat




Leave a Reply