Stradivari in der U-Bahn-Halle

Psychologie

Joshua Bell füllt gewöhnlich große Konzerthallen - auf der Straße hörte ihm indes niemand zu. Nicht alles, was sich intuitiv anfühlt, ist es auch, sagt Andreas Zeuch.

5. Jun 2014

von Andreas Zeuch

Nicht alles, was sich wie Intuition anfühlt, ist es tatsächlich auch. Das Vertrackte an unserer Intuition liegt unter anderem darin, dass sie sich häufig in Kombination mit Gefühlen zeigt oder dass wir sie einfach nur als ein vages gutes oder schlechtes Gefühl wahrnehmen.

Wenn wir uns mit unserer Intuition nicht auseinandergesetzt haben, gibt es keine eindeutige Markierung, die uns zeigt, dass wir jetzt einen intuitiven Moment haben und nicht einfach nur irgendein Gefühl erleben. Das öffnet Tür und Tor für Verwechslungen. Denn wir haben Gefühle, die sich auf sehr ähnliche Weise wie unsere Intuition zeigen können.

Eine Intuition kann uns als Aufregung bewusst werden: Erhöhter Herzschlag und Blutdruck sowie leicht schweißige Hände. Genau diese „Symptomatik“ zeigte sich bei einem Berater, den ich vor mehreren Jahren für meine Doktorarbeit interviewt hatte. Immer dann, wenn er in einer Auftragsklärung mit einem potentiellen Kunden zugange war und diese Aufregung verspürte, wusste er intuitiv, dass er auf dem richtigen Weg war. Die körperlichen Reaktionen auf das Gespräch waren wie ein Startsignal. Diese Anzeichen könnten aber genauso gut Angst bedeuten.

Gefühle und Gedanken im Wechselspiel

Die Verwechslung von Intuition mit Gefühlen entsteht auf folgende Art und Weise: Gefühle und Gedanken stehen in einem ständigen Wechselspiel. Die Trennung, die wir vornehmen, ist genauso illusionär, wie die Trennung von Intuition und Rationalität. Sie existieren nur in unserer Sprache.

Jedes Gefühl ist immer auch durchdrungen von Gedanken, genau genommen von „kognitiven Bewertungen“: Eine körperliche Reaktion auf ein Ereignis wird erst durch das Umfeld, in dem sie stattfindet und die damit verbundene Interpretation und Bewertung zum Gefühl. Die Angst vor der Rede bei der Betriebsversammlung kann sich körperlich genauso äußern, wie ein Gefühl von Verliebtheit, wenn unser neuer Schwarm abends endlich vor unserer Haustüre steht.

Die Verwechslung kommt dadurch zustande, dass in einer bestimmten Situation die körperlichen Signale nicht eindeutig zugeordnet werden können. Es fehlen die unverwechselbaren Hinweise und schwupp, wird aus einer Angst eine Intuition, die wir fälschlich als Startsignal interpretieren, weil wir es sonst von uns gewohnt sind, dass uns eine Aufregung sagt: „Hey, Du liegst genau richtig, auf was wartest Du noch? Leg los!“

3 Cent pro Person

Eine sehr gute Illustration der Bedeutung des Umfeldes für die Beurteilung einer Situation und den damit verbundenen Gefühlen und Intuitionen liefert ein Experiment der Washington Post: Am 12. Januar 2007 stellte sich um 7:51 Uhr ein ganz und gar unauffälliger Mann in die kleine Eingangshalle der U-Bahnstation L‘Enfant Plaza in Washington D.C.

Er holte seine Geige aus der Tasche, setzte sie an und begann die Sonaten und Partiten für Violine Solo von Johann Sebastian Bach zu spielen, alles andere als ein Anfängerstück. Nach einer knappen Dreiviertelstunde war er fertig, aber keinerlei Applaus ertönte. Immerhin sind während seines Spiels 1097 U-Bahnfahrer vorbeigegangen, die meisten von Ihnen aus dem Bildungsbürgertum, denn L‘Enfant Plaza liegt im Kern des Washingtoner Regierungsbezirks. In einer kleinen Schlange, die in der Nähe des Geigers vor einem Lotterie-Laden stand, drehte sich keiner um und schaute hin, um besser hören zu können.

Das mag Sie zunächst nicht verwundern. Spannend wird es aber, wenn klar wird, wer da gespielt hat: Joshua Bell, einer der heutigen Stargeiger, der mit fast allen Weltklasse-Orchestern zusammen gespielt hat. Seine Geige, die er tatsächlich auch in diesem Experiment spielte, wurde im Jahre 1713 von Stradivari gebaut ist rund dreieinhalb Millionen US-Dollar wert. Und klingt entsprechend.

Wenn Bell in der Carnegie Hall auftritt oder in einem der anderen weltbekannten Konzertsäle, dann gibt es häufig genug stehende Ovationen, zumindest aber lang anhaltenden Applaus von einem begeisterten Publikum. Um Bell hören zu können, zahlt das Publikum häufig Kartenpreise von über 100 US-Dollar. In der Dreiviertelstunde seines Incognito-Spiels bekam Bell, der in Konzerten umgerechnet bis zu 1000 US-Dollar pro Minute verdient, sage und schreibe 32 US-Dollar und 17 Cent. Das macht pro Person, die an ihm vorbeigelaufen sind, aufgerundet einen Beitrag von 3 Cent.

Umfeld steuert machtvoll

Selbst wenn wir kritisch in Rechnung stellen, dass nicht alle der Personen, die an Bell vorbeigegangen sind, Liebhaber barocker Musik sind, Bach-Fans oder Violinensoli lieben, so ist es doch erstaunlich, dass sich in der Zeit nicht mal für ein paar Sekunden ein kleines Publikum gebildet hat, oder das wenigstens eine begeisterte Zuhörerin längere Zeit stehen blieb, um einem begnadeten Geiger lauschen zu können. Die Moral von der Geschichte: Wenn wir nicht achtsam sind, steuert das Umfeld machtvoll, wie wir wahrnehmen, interpretieren und uns verhalten.

Feel it! So viel Intuition verträgt Ihr Unternehmen.

von Andreas Zeuch.

  • Wiley, Weinheim, 2010
  • 262 Seiten, 24,90 Euro
  • ISBN: 978-3-527-50467-1

Siehe hier für weitere Informationen.

Andreas Zeuch promovierte in Erwachsenenbildung über das Training professioneller Intuition. Er arbeitet seit dem Jahr 2003 als freiberuflicher Berater, Trainer, Coach und Speaker mit dem Schwerpunkt unternehmerischer Entscheidungen und Managementinnovation.

Weiteres zur Person auf www.a-zeuch.de sowie www.crowdintuition.de.

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