Stimmungsstörung: Streit um Kinder-Krankheit DMDD

Von einen auf den anderen Moment kochen sie vor Wut. Sie schlagen um sich, hauen auf Menschen oder Gegenstände ein. Mindestens jeden zweiten Tag bricht der Zorn unhaltbar aus diesen Kindern heraus, zu Hause, in der Schule oder wenn sie mit den Eltern unterwegs sind. Zwischen den Wutausbrüchen sind sie sehr reizbar, wirken aber auch betrübt, verschlossen und depressiv. Die Folgen: Probleme in der Schule, wenig Freunde.

Kinder, denen es so geht, befinden sich nicht in einer üblichen frühkindlichen Trotzphase. Dafür sind sie zu alt und ihre Ausraster zu gravierend. Für die heftigen Stimmungsschwankungen haben Psychiater einen neuen Namen parat: DMDD - eine Abkürzung, die für Disruptive Mood Dysregulation Disorder steht.

Dass es den Kindern nicht gut geht, ist zwar offensichtlich. Welches Problem genau dahinter steckt, ist jedoch strittig. "Manch ein Psychiater diagnostiziert eine schwere Form von ADHS mit begleitender depressiver Verstimmung", berichtet der Kinderpsychiater Florian Daniel Zepf vom Universitätsklinikum Aachen. Andere notierten dagegen eine Störung des Sozialverhaltens, oder zusätzlich eine emotionale Störung.

In den USA wurde bei den Kindern bisher zumeist die Diagnose einer bipolaren Störung erstellt. Gemeint ist damit ein episodischer Wechsel zwischen krankhaftem Hochgefühl und Depression. Doch der Versuch, solche Kinder einer Kategorie zuzuordnen, mündete in den USA in einer rasanten Zunahme der bipolaren Störungen - was sich auch in der Forschung wiederspiegelte: "Allein im Januar 2008 wurden mehr wissenschaftliche Artikel zur Bipolar-Störung bei Kindern veröffentlicht als in den Jahren zwischen 1986 und 1996 zusammen", schreibt Zepf mit seinem Kollegen Martin Holtmann von der Universität Bochum im "Textbook of Child and Adolescent Mental Health".

Die Psychiater standen vor einem Problem: "Eigentlich passen Kinder mit diesen schweren Stimmungsschwankungen nicht eindeutig in eine der bisherigen Kategorien", sagt Zepf. Das erschwere auch eine angemessene Behandlung.

Klarheit durch neue Diagnose?

Um mehr Klarheit zu schaffen und die Bipolar-Epidemie in den USA einzudämmen, wurde deshalb die neue Diagnose DMDD eingeführt. Diese schwere Stimmungsregulationsstörung wird ab Mai 2013 offiziell in die Neuauflage des Katalogs für psychische Störungen aufgenommen: das DSM-5.

Doch vielen Medizinern und Psychologen bereitet die neue Diagnose Bauchschmerzen. Denn DMDD ist erst seit sieben Jahren im Gespräch - und bisher kaum erforscht. Üblicherweise dauert es viele Jahre und Hunderte Studien, bis eine psychische Erkrankung als offizielle Diagnose in das Handbuch aufgenommen wird.

So wurde etwa die Binge-Eating-Störung erst nach vielen Jahren zusätzlicher Forschung in das neu aufgelegte Manual eingereiht, während die Internetsucht es nicht ins DSM-5 geschafft hat. Dagegen mangelt es bei DMDD an Studien, so dass noch Fragen offen sind: Schließen die Kriterien in der Praxis tatsächlich nur kranke Kinder ein? Und legen alle Kinderpsychiater die Kriterien auch identisch aus?

"Das wird die Epidemie Nummer vier unter Kindern - nach ADHS, dem Asperger-Syndrom und der bipolaren Störung", alarmierte der Psychiater Allen Frances seine Kollegen im Fachmedium "Psychiatric Times". Allen ist der größte Kritiker des DSM-5. Am Vorgänger, dem DSM-4, hatte er selbst federführend mitgearbeitet, doch viele Inhalte der Neuauflage hält er für willkürlich. Auch die Einführung der DMDD ist für ihn eine Missetat: "Statt die Epidemie von Bipolar-Diagnosen einzudämmen, erschafft das DSM-Komitee eine weitere Modekrankheit", schreibt er. Stattdessen würden durch die neue Diagnose künftig noch mehr Kinder zu Unrecht als krank eingestuft und ihnen zu viele Medikamente verabreicht.

Mal passt sie, mal passt sie nicht

Eine aktuelle Studie von 17 Psychiatern um David Axelson von der University of Pittsburgh Schools of Health Sciences befeuert die Bedenken: In einer Stichprobe von mehr als 700 Kindern passte die Diagnose DMDD auf jedes vierte Kind. Über zwei Jahre hinweg war die Diagnose zudem bei der Hälfte der Kinder instabil. Sie traf also mal zu, mal nicht.

Auch der deutsche Kinderpsychiater Florian Daniel Zepf ist skeptisch, was die neue Störung im Praxisalltag bedeuten könnte. Hierzulande wird zwar nach dem Kriterienkatalog der Weltgesundheitsorganisation ICD-10 abgerechnet. Aber das DSM beeinflusst das psychiatrische Kapitel darin sowie die gesamte psychiatrische Forschung stark. "Die Ärzte und Psychologen werden wahrscheinlich weiterhin noch einige Zeit unsicher sein, wie sie mit den Kindern umgehen sollen", vermutet Zepf. Vor allem aber mangele es an passenden wissenschaftlich erprobten Behandlungsmethoden.

Der Kinderpsychologe William Copeland teilt nicht alle Bedenken. Er und seine Kollegen von der Duke University haben DMDD dieses Jahr erstmals umfassend erforscht. Die bisher noch unveröffentlichte Studie mit mehr als 3200 Kindern zeigt: DMDD erklärt normales Verhalten nicht für krankhaft, wie vielfach von Kritikern angeprangert wird. Copelands Untersuchung zufolge betrifft die Diagnose auch nur eines von 100 Kindern. Die meisten von ihnen hätten auch als Erwachsene psychische Probleme, weshalb die DMDD eine ernstzunehmende Diagnose sei, die durchaus mehr Interesse von Forschern verdient habe.

Altbekanntes in anderem Gewand?

Dennoch sieht Copeland die Entscheidung, die neue Kinderstörung schon jetzt zu einer offiziellen Diagnose zu erheben, kritisch: "Ich denke, das ist etwas voreilig. Immerhin gibt es nur sehr wenig Forschung zu dieser speziellen Erkrankung."

Bedenklich ist für Kritiker auch, dass die meisten Kinder, die zukünftig die Diagnose DMDD erhalten würden, bereits eine andere psychische Erkrankung vorweisen. So zeigt Copelands Studie etwa, dass ADHS unter den DMDD-Kindern bis zu 12-mal häufiger auftrat, als unter jenen Kindern, auf die die neuen Störungskriterien nicht passten.

Ist DMDD also überhaupt eine neue Störung oder ein zusätzlicher Krankheitsstempel? "Bisher steht der Nachweis noch aus, ob die Diagnose wirklich etwas komplett Neues beschreibt oder nur eine schwere Form von längst bekannten psychischen Erkrankungen oder deren Kombination ist", sagen auch die deutschen Kinderpsychiater Zepf und Holtmann. Bisher gebe es zwar Hinweise, dass es sich um eine eigenständige Erkrankung handeln könnte, sagt Zepf. "Doch vollständig ausgereift ist die Diagnose DMDD noch nicht."

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