Stadien sind unsere modernen Kirchen

Das Stadion ist ein seltsamer Ort. Es dient dem Frieden wie dem Krieg, ist Schauplatz rührender Verbrüderungsszenen oder zügelloser Gewalt, verspricht Erbauung oder Erniedrigung. Es handelt sich dabei nicht nur um einen simplen Austragungsort von Sportveranstaltungen, sondern kann auch zu ganz anderen Zwecken genutzt werden: in Südkorea etwa für Massentrauungen, in Afghanistan zum Steinigen von Sündern, im Iran für Regimepropaganda.

Der Auftritt der Beatles 1965 im New Yorker Shea-Stadium gab den Startschuss für die Geschichte des Stadionrock und prägt bis heute Ästhetik und Vermarktung des Popzirkus. Alles ist möglich im baulichen Oval. Das Stadion als Multifunktionsanlage.

Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert

Eine Ausstellung in der Akademie der Künste erkundet nun dieses Phänomen mit Fokus auf die Felder Stadion, Sport und Rausch. Rechtzeitig zur Fußball-Europameisterschaft und unter dem Titel: "Choreographie der Massen". Strategisch ist der Ort am Pariser Platz beim Brandenburger Tor gut gewählt. Nur ein paar Meter weiter auf der Straße des 17. Juni befindet sich Deutschlands größte Public-Viewing-Meile im Aufbau.

Man hofft, so Akademie-Präsident Klaus Staeck, als weiterführendes Angebot zur EM einige Fußball-Aficiandos in die Ausstellungsräume zu locken. Die Ausstellung thematisiert Massenphänomene aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln: Sport in der Antike, Turnen und Sport im 19. und 20. Jahrhundert, Sport und Politik, Sport und Kommerz sowie Sport, Fans und Hooligans.

Die Schau erkundet auf philosophische Weise die Mechaniken von Ästhetik und Architektur auf kollektives Verhalten sowie die Instrumentalisierung für politische Zwecke. Kurator Volkwin Marg weiß um die Massenpsychologie von großen Bauwerken. Als Teil des Architektur-Büros GMP (Gerkan, Marg und Partner) entwarf er zuletzt die "Crystal Hall" in Baku, Austragungsort des diesjährigen Eurovision Songcontest.

"Missbrauch kann geschehen"

Außerdem wurden unter seiner Federführung die beiden größten Stadien für die EM in Warschau und Kiew umgestaltet. Weder Aserbaidschan noch die Ukraine sind liberal-demokratische Staaten. Solche semi-demokratischen Regime können solche Bauwerke natürlich ihren Zwecken zunutze machen.

Der Missbrauch von Architektur sei zwar immer möglich, so Marg. Jedoch habe man als Architekt die Möglichkeit, die Psychologie eines Baus zu antizipieren und bewusst zu gestalten. Eine Choreographie der Massen also. "Architektur ist natürlich nicht unpolitisch", sagt Marg. "Missbrauch kann geschehen, aber die politischen Verhältnisse können sich ändern. Es gibt zwei Geschwindigkeiten zwischen Architektur und Gesellschaft. Die eine ist für hundert Jahre gebaut, die andere wandelt sich ständig. Das ursprüngliche polnische Nationalstadion beispielsweise entstand unter dem Einfluss des russischen Stalinismus, zu guter Letzt feierte der polnische Papst dort eine Messe mit Hunderttausend Gläubigen".

In München fanden die "heiteren Spiele" statt

Diese entgegengesetzten Nutzungsweisen zeigen charakteristisch auch die beiden Miniatur-Modelle am Eingang zur Schau. Einmal das Reichssportfeld für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, das als vollkommene Instrumentalisierung eines totalitären Regimes in die Geschichte einging.

Gegenüber das Olympiastadion von 1972 in München, das die "heiteren Spiele" einer Demokratie versinnbildlichen sollte. Stadien waren immer schon Örtlichkeiten politischer Beeinflussung. Das passive Sporterlebnis dient der Masse als Triebabfuhr, Ersatzrausch, Quasi-Religion.

Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti recherchierte zwanzig Jahre für seine epochale, fünfhundert Seiten starke Beobachtung "Masse und Macht". Das Buch erschien 1960 und wurde zum soziologischen Klassiker. Canetti beschrieb die psychologischen Wirkweisen von Kollektiven. Volkwin Marg bedauert, dass im Rahmen der Ausstellung nur weniges daraus zitiert werden kann. Die Lektüre habe ihn einst sehr nachdenklich gemacht und seine Arbeit nachhaltig beeinflusst.

In Ägypten kam es zu Ausschreitungen

Erst kürzlich, im Februar dieses Jahres, kam es im ägyptischen Port Said zu einer Ausschreitung unter Fußballfans. Bei der Randale starben insgesamt 74 Menschen. Vor dem Hintergrund der Revolution in Ägypten wird deutlich, wie wichtig die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Masse im Hinblick auf Sportveranstaltungen ist.

In einer globalisierten Welt der digitalen Gleichzeitigkeit sind alleine schon Fernsehbilder eines Ereignisses ein millionenfacher Multiplikator. Das Geschehen findet nicht mehr nur vor Ort statt, es vervielfacht sich gefiltert oder ungefiltert im medialen Äther.

"Der wahre Henker ist die Masse", sagte Elias Canetti einmal. Sie leitet das Kollektiv oft auf wundersame, oft gefährliche Bahnen. Die Ausstellung "Choreographie der Massen" bringt jene Psychologie anschaulich zum Vorschein.

Akademie der Künste, Berlin; bis 12. August.

Nationalstadion in Warschau

Volkwin Marg – Der Mann der Megaprojekte

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