Spähskandal und Psychologie – Dr. Snowdens Angsttherapie

Wenn Ex-SPD-Innenminister Otto Schily von „teilweise wahnhaften Zügen“ bei der Angst gegenüber dem Staat spricht, kann ein Blick auf das Entstehen von Ängsten bei Menschen Klarheit schaffen. Menschen haben vor den verschiedensten Dingen Angst: Spinnen, dem Verlust von Angehörigen, Arbeitslosigkeit und eben auch davor, Opfer eines Terroranschlags zu werden. Bei der Bewertung sind selten die objektive Wahrscheinlichkeit oder das objektive Gefahrenpotenzial die Basis, sondern die subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeit oder Bedrohung.
Bisher konnten Regierungen weltweit mit dem Verweis auf die Gefahren eines Terroranschlags massive Überwachungssysteme und Gesetzgebung in die Wege leiten. Die Anschläge der letzten Jahre waren ständig präsent in den Medien oder in der politischen Debatte. Der Bürger lebte in der diffusen Angst, bei jeder Großveranstaltung – sei es beim Public Viewing oder dem Oktoberfest – möglicherweise Opfer eines Terroranschlags zu werden. Auch schon auf dem Weg zur Arbeit lauerte die Gefahr.
Die Möglichkeit eines Terroranschlags soll hier nicht klein geredet werden. Allerdings ist es statistisch betrachtet wahrscheinlicher, aus einem anderen Grund zu Schaden zu kommen. So sind in den letzten acht Jahren im Durchschnitt jährlich 23 Amerikaner durch Terrorismus ums Leben gekommen. Nicholas Kristof schreibt in der „New York Times“, dass mehr Amerikaner durch einen Sturz von der Leiter zu Tode kommen als durch einen Terrorakt. Auch die deutschen Unfallstatistiken offenbaren, dass die Wahrscheinlichkeit, im eigenen Haus oder in der Freizeit zu Schaden zu kommen, deutlich höher ist, als Opfer eines Terroranschlags zu werden. Aber würde jemand deshalb auf das Fensterputzen oder auf eine Autofahrt verzichten?
Die individuelle Einschätzung, was gefährlich ist und was nicht, wird durch die Wahrnehmung der Menschen gesteuert und nicht durch Statistiken. Daher ist es verständlich, dass Schily seiner persönlichen Bewertung folgt. Zudem muss er die Verschärfung der Überwachungsmaßnahmen – die so genannten „Otto-Kataloge“ – und die strikte Verteidigung der Vorratsdatenspeicherung rechtfertigen. Geprägt von den Anschlägen 2001 ist es nachvollziehbar, dass er die Gefahr eines Terroranschlags als extrem hoch bewertet. Realistisch ist diese Bewertung jedoch nicht. Und auch der heutige CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich spricht davon, dass Terroranschläge verhütet worden seien. Nach einer Anzahl gefragt, gibt er zu: „Was nicht stattfindet, kann man nur schwer zählen.“
Die Innenminister versuchen, ihre Überwachungsmaßnahmen und die immer stärkere Einschränkung der Bürgerrechte zu begründen, und selektieren dabei Informationen. Erkenntnisse, die ihr Handeln unterstützen und bestätigen, kommunizieren sie dabei gerne. Der Bürger bekommt den Eindruck, die Terrorgefahr sei allgegenwärtig.
Die echte, unberechenbare Gefahr, die von Edward Snowdens Enthüllungen für die Regierungen und ihre Überwachungssysteme ausgeht, ist die Neubewertung der Terrorgefahr durch die Bürger. Snowden hat nicht nur ein gigantisches System an Bespitzelung und Spionage offenbart und Regierungen in Bedrängnis und Erklärungsnöte gebracht. Die aktuellen Großdemonstrationen haben gezeigt, dass er das Potenzial entfaltet hat, die subjektive Bewertung in großen Teilen der Bevölkerung zu verändern. Damit hat er unwissentlich das Prinzip jeder Angsttherapie genutzt: die realistische Einschätzung der angstbeladenen Situation.
Durch die Enthüllungen über das umfangreiche Ausspionieren elektronischer Kommunikation im alltäglichen Leben werden immer mehr Bürger vor die Aufgabe gestellt, ihre Ängste neu zu justieren. Sie überprüfen das Verhältnis Bürger–Staat und stellen die bisher indoktrinierte Terrorgefahr infrage. Die Wahrscheinlichkeit, dass private, vertrauliche Informationen abgehört und abgefangen werden, ist nach Snowdens Enthüllungen real. Die Wahrscheinlichkeit der Bespitzelung ist deutlich größer als die, Opfer eines Terroranschlags zu werden.
Mit dieser Neueinschätzung der Bedrohung durch Überwachung werden sich viele mit einer neuen Offenheit im Leben umschauen und Situationen neu bewerten. Situationen, die bisher als notwendig akzeptiert wurden, um den Terror zu bekämpfen, werden kritisch hinterfragt werden. Die Wahrnehmung leidet häufig unter dem Problem, dass Informationen selektiv bewertet werden. Erkenntnisse, die die bisherige Wahrnehmung unterstützen, werden als wichtiger und valider bewertet. Snowden hat die selektive Wahrnehmung durch die „Brille des Terrors“ abgeschwächt und ein neues Glas „Bürgerrechte“ in die Brille eingesetzt. Die Sicht wird entzerrt und damit die Ängste neu justiert.
Datensicherheit ist ein urliberales Thema und es steht nun wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Die Bürger sind dabei, die subjektive Bedrohung durch massives Ausspionieren als schwerwiegender zu bewerten als einen potenziellen Terroranschlag. Das ist notwendig, um ein gesundes Gegengewicht zu den Maßnahmen der letzten Jahre herzustellen. Es geht um weit mehr als die Abwendung der aktuellen Vorratsdatenspeicherung. Wir haben es hier mit einer massiven anlasslosen Speicherung und Ansammlung von Daten von Millionen von Menschen zu tun.
Wir Liberale haben uns seit jeher gegen einen ungezügelten Eingriff in das Privatleben der Bürger gestemmt. Jetzt ist es an der Zeit, klare Grenzen aufzuzeigen.

Nadja Hirsch (FDP) ist Diplompsychologin und Mitglied des Europäischen Parlaments.

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