Sind Sie der überkontrollierte Typ? – News Wissen: Medizin & Psychologie … – Tages

Die psychologische Vermessung der Persönlichkeit ist komplex. Wie der Charakter der Menschen an sich. Doch nun schlägt eine deutsche Psychologin eine vereinfachte Kategorisierung der Persönlichkeitsmerkmale vor. «In vielen Ländern der Welt reichen drei Typen, um die Persönlichkeit aussagekräftig zu beschreiben», sagt Jule Specht. Das sei zwar nicht gleich ein Paradigmenwechsel in der Erforschung der Seele, aber «erstaunlich ist das schon», erklärt die Psychologin der Freien Universität Berlin weiter. Unabhängig von ihrem seelischen Befinden lassen sich die Menschen laut Specht einerseits in einen unterkontrollierten Typ, in den überkontrollierten Typ sowie in den resilienten (widerstandsfähigen) Typus kategorisieren.

Die Einteilung der Menschen in Typen galt in der Forschung lange Zeit als verpönt. Zu simpel, hiess es, während wir im Alltag allzu gerne in die Schublade greifen: «Das ist ein Optimist», «das ist ein Heuchler» oder «das ist ein Choleriker». In der Psychologie hingegen gingen die Experten, dem vertrackten Wesen des Sujets geschuldet, jahrzehntelang einen anderen Weg. Sie sammelten zunächst alle möglichen Begriffe für Eigenschaften, mit denen man die Persönlichkeit beschreiben kann, und fassten dann verschiedene Merkmale zu Kategorien zusammen. Beispiel: Wer offen auf andere zugeht, ist höchstwahrscheinlich auch sehr kommunikativ.

Über diese Strategie erwuchs letztlich das Konzept der Big Five, der «grossen fünf» Charaktertypen. Sie waren lange Zeit das alleinige Mass der Dinge, wenn Psychologen, in einem wissenschaftlichen Sinne, die Persönlichkeit vermassen: 1. Offenheit für Neues, 2. Verträglichkeit, 3. Gewissenhaftigkeit, 4. emotionale Belastbarkeit und 5. nach aussen oder innen gekehrtes Verhalten. Indem man die Stärke jedes einzelnen Merkmals bei einem Menschen ermittelt, lässt sich von jedem ein individuelles Persönlichkeitsprofil erstellen. In vielen Studien erwiesen sich diese Merkmale über Jahre bis Jahrzehnte als stabil. Das ist das strengste Kriterium für ein Charaktermerkmal.

Leichter durchschaubares System

Das Problem der Big Five: So richtig weiss damit niemand, wie man wirklich ist – in der gesamten Persönlichkeit. Zwischen zwei gewissenhaften Menschen können bei den restlichen Kategorien himmelweite Unterschiede klaffen. Wer hingegen einem bestimmten Typus angehört, ähnelt allen anderen Leuten in der gleichen «Typklasse». Gefragt waren also Typen, «die wirklich den ganzheitlichen Charakter von Menschen treffend beschreiben», wie Specht es ausdrückt. Ein System, das letztlich auch für einen Laien leichter durchschaubar ist.

So begannen Wissenschaftler vor etwa zwei Jahrzehnten mit der entsprechenden Suche – erst bei Kindern, dann bei Erwachsenen. In mittlerweile etlichen Studien kristallisierten sich die drei erwähnten Grundtypen heraus:

Der unterkontrollierte Typ Diese Menschen sind lebhaft, körperlich, nach aussen orientiert, impulsiv und mitunter aggressiv. Mitgefühl ist nicht ihre starke Seite. Sie nerven bisweilen, sind wenig verträglich und wenig gewissenhaft. Alles in allem eher unfreundliche Leute mit mangelnder Selbstkontrolle.

Der überkontrollierte Typ Diese Menschen sind ängstlich und vorsichtig defensiv und wenig belastbar, brav und angepasst. Sie wirken oft angespannt. Abweichungen von ihrer Routine verstören sie. Bei den Big Five sind sie hoch introvertiert und neurotisch und kaum offen für Neues. Erstaunlicherweise sind sie nur mittelmässig gewissenhaft, weil ihre Selbstkontrolle defensiv und unflexibel ist. Aktive Selbstkontrolle hingegen ist zupackend und offensiv.

Der resiliente Typ Gewappnet gegen die Grässlichkeiten des Lebens, meistert er schwierige und konfliktreiche Situationen, als wäre es nichts. Diese Menschen sind eher extrovertiert, verträglich, gewissenhaft und kaum neurotisch – und meist offen für Neues.

«Das ist zwar ein sehr grobes Raster», erklärt Jule Specht, «das sich aber in verschiedenen Studien als robust erwiesen hat.» Das Team von Guido Alessandri von der Universität La Sapienza in Rom hat beispielsweise jeweils Hunderte Personen aus Italien, Polen, Spanien und den USA daraufhin untersucht. «Auch in diesen Ländern mit ihren kulturellen und sprachlichen Unterschieden sind die drei Typen offenkundig», erklärt der Psychologe. Sie allein genügen, um Persönlichkeitsunterschiede der meisten Menschen in diesen Ländern zu beschreiben.

Psychologin Specht beleuchtet in einer noch laufenden Studie die Persönlichkeitstypen von Millionen Menschen weltweit. «Immer wieder finden wir die drei Typen und nur relativ selten Abweichungen.» In Australien beispielsweise gesellt sich ein vierter hinzu, den Specht «den durchschnittlichen nennt, weil die betreffenden Personen bei den Big Five durchgängig Durchschnittswerte erzielen.»

Ihr Berliner Kollege Jens Asendorpf hat ermittelt: Der Persönlichkeitstyp von Vorschulkindern erlaubt es, vorherzusagen, wie aggressiv sich diese Menschen im Alter von 22 Jahren verhalten. Daraus liesse sich deuten, dass der Persönlichkeitstyp über das Leben hinweg in Stein gemeisselt ist. «Ganz so einfach ist es aber nicht», sagt Specht und berichtet von Ergebnissen ihrer Studie mit fast 15 000 deutschen und gut 8000 australischen Probanden von 15 bis über 80, deren Persönlichkeit sie über vier Jahre hinweg analysiert hat. Vor allem in der mittleren Lebensphase, so zwischen 30 bis 60 Jahren, bleibt die Persönlichkeit zwar stabil. Aber jenseits dessen haben Specht und ihre Kollegen Maike Luhmann und Christian Geiser ermittelt, dass die Typen mitunter flexibel sein können. «Vor allem im Alter», wie die Psychologin betont.

Die meisten bleiben sich treu

Jenseits des 70. Lebensjahres wechselte ein Viertel der Studienteilnehmer seinen Persönlichkeitstyp, und zwar in alle möglichen Richtungen. Die Ursache ist bislang unbekannt. Vor dem 30. Altersjahr zählten in Spechts Studiengruppe 40 Prozent der Männer zum unterkontrollierten Typus. Ab 30 Jahren waren es nur noch 20 Prozent. Was nichts anderes zeigt, als dass sich zumindest bei einigen Herren die Aggression der jungen Jahre verflüchtigt. «Doch die Allermeisten», sagt Psychologin Specht, «bleiben ihrer Persönlichkeit treu.» Und damit sich selbst.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 07.07.2015, 06:50 Uhr)

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