Selbstlosigkeit oder Sucht Leiden Sie am Helfersyndrom?

Was tun Sie zuerst, wenn bei einem Notfall im Flugzeug die Atemmasken herabbaumeln? Setzen Sie sich die Maske zuerst auf, oder helfen Sie Kindern und alten Menschen? "Die Anweisung des Bordpersonals ist klar: Setzen Sie zuerst sich selbst die Atemmaske auf und helfen Sie dann anderen", sagt Ferah Aksoy-Burkert, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin in St. Ingbert. Aus ihrer Praxis kennt sie viele Menschen, die anders entschieden hätten. Solche, die vom Gedanken, anderen zu helfen so getrieben sind, dass sie sich selbst vergessen.

Beim Notfall im Flugzeug wäre das fatal. Denn wer selbst keine Luft mehr bekommt, ist auch als Helfer für andere nutzlos. So klar diese Erkenntnis auch ist, so unmöglich ist es manchen Menschen, danach zu handeln. Sie sehen das Wohl anderer im Vordergrund und fühlen sich selbst nur dann gut, wenn sie Schwächeren, Kranken und Hilfsbedürftigen zur Seite stehen.

In einigen Berufen macht das den Kern der Arbeit aus. In Pflegeberufen, bei Ärzten oder Therapeuten geht es genau darum, anderen zu helfen. Dabei fällt dem Münchener Psychologen und Psychoanalytiker Dr. Wolfgang Schmidbauer in seinen Therapierunden auf, dass viele seiner Patienten vom Wunsch des Helfens nahezu besessen sind. 1977 prägte er den Begriff des "Helfersyndroms", der eine Störung der Persönlichkeit meint. Längst ist er Teil der Alltagssprache geworden und lässt eher schmunzelnd vergessen, dass damit eigentlich eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung gemeint ist.

Diese Menschen sind besonders gefährdet

"Es trifft häufig Menschen, die als Kind nicht erlebt haben, dass man für ihre Bedürfnisse da war oder die gelernt haben, dass die einzige Möglichkeiten Beziehungen zu knüpfen über das Helfen besteht", sagt Psychologin Aksoy-Burkert. Die Message, die sie schon in den ersten Lebensjahren ins Hirn gebrannt bekommen ist: Du bist schuld an meiner schlechten Situation. Eltern, die ihrem Nachwuchs fortwährend das Gefühl geben, zum Beispiel für ihre Kopfschmerzen oder ihren Stress verantwortlich zu sein, können nach Auffassung der Psychoanalytiker damit den Grundstein für das seelische Leiden legen, das sich erst später zeigt. Ebenso auch die frühere Erfahrung, dass Anerkennung der Eltern immer an Leistung gekoppelt ist. Die Lektion, die dafür anfällige Personen mitnehmen ist, sich selbst nur dann als guten Menschen zu sehen, wenn sie anderen gegenüber aufmerksam und hilfsbereit sind.

Was Außenstehende für sich als nützlich und entlastend erleben, treibt die zwanghaften Helfer in eine immer enger werdende Spirale. Sie sind so sehr auf die Bedürfnisse ihrer Umwelt konzentriert, dass sie sich selbst aufgeben. Wo Kollegen abwinken, laden sie sich Arbeit freiwillig auf oder springen da ein, wo andere längst ihrer Freizeit nachgehen. "Von der Persönlichkeitsstruktur her handelt es sich häufig um Menschen, die sehr patent sind und schnell "ja" sagen", so charakterisiert die Psycholanalytikerin. Um ihr eigenes geschwächtes Selbstwertgefühlt zu kompensieren, greifen sie permanent Personen, die noch schwächer sind als sie, unter die Arme.

Den Partner pflegen – krankhafte Erfüllung

"Hilfsbereitschaft" hat dann mit der netten Tugend nichts mehr zu tun. Sie ist längst zur Sucht geworden. Die Betroffenen sind nicht mehr in der Lage, Hilfe zielzurichten. Für sie geht es ausschließlich darum, sie zu leisten, egal an wem und in welcher Form. Ein Mann mittleren Alters, der sich beim Sport den Fuß umgeschlagen hat und darum humpelnd unterwegs ist, wundert sich beim Betreten einer Praxis über die hektisch von ihrer Arbeit aufspringende Arzthelferin, die zur Tür stürmt und ihm gegen seinen Willen unter die Arme greift, um ihn zu stützen. Er empfindet es als Grenzüberschreitung. Diese und ähnlich skurrile Schilderungen machen die Zwangsjacke sichtbar, in der die notorischen Helfer stecken. "Sie haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie nichts für andere tun können", so beschreibt Ferah Aksoy-Burkert, was die Betroffenen umtreibt. Oftmals zögen sie Menschen mit Problemen magisch an.

Das kann so weit gehen, dass die notorisch Helfenden, gezielt Partnerschaften mit behinderten Menschen oder Suchtkranken eingehen. Wiedersinniger Weise tut es ihnen gut, sich als Märtyrer zu fühlen. Die Partnerschaft gerät in dem Moment ins Ungleichgewicht, indem es um falsch verstandene Fürsorge geht, in der der vermeintlich schwächere Lebensgefährte krankhaft an sich gebunden wird. "Dadurch entstehen Abhängigkeitsstrukturen, mitunter auch Co-Abhängigkeiten", sagt Aksoy-Burkert. "Der unter einer Sucht leidende Partner wird gedeckt und damit seine Abhängigkeit gefördert." Angetrieben von der Suche nach einem Dank und eigener Bestätigung, führt der Wunsch anderen zu helfen zur totalen Selbstaufgabe.

Unternehmen profitieren von neurotisch Helfenden

Aksoy-Burkert selbst beobachtet solch überzogenes Hilfsverhalten nicht nur in Pflegeberufen, bei Lehrern, Seelsorgern oder Ärzten, sondern auch in vielen anderen Jobs. "Oft dann, wenn mir Menschen begegnen, die sich ausgebrannt fühlen, Ängste entwickeln, Depressionen oder Burn-out." Die meisten Unternehmen sind dankbar dafür, solch engagierte Mitarbeiter zu haben, denn sie entlasten andere und machen Dinge, zu denen andere nicht bereit sind. Dabei tappen sie in eine gemeine Falle, dann das, was kurzfristig den Eindruck ereweckt, positiv zu wirken, erweiste sich langfristig oft als Problem.

Da eine auffällige Schwäche dieser Menschen häufig die mangelnde Fähigkeit ist Prioritäten zu setzen, lassen sie sich förmlich in Arbeit ersticken. Überstunden und Arbeit am Wochenende bringen das Fass zum Überlaufen: "Ich mache Probleme meiner Familie zu meinen. Sie belasten mich tagtäglich. …Außerdem arbeite ich zur Zeit auch noch in der Pflege. … Dann der Alkoholkonsum, wenn die Situationen zu belastend geworden sind und ich es kaum noch ertragen konnte oder daran gescheitert bin zu helfen", schreibt eine 26-Jährige verzweifelt in ein Sucht-Selbsthilfeforum.

Wenn der Helfer zum Hilflosen wird

Das aber fällt erst dann auf, wenn der Moment des Zusammenbruchs kommt. Der Helfer wird zum Hilflosen. Und das in vielen Facetten. Denn die Drehzahl, mit der krankhaft Helfende agieren ist ständig zu hoch. Sie beginnen eigene körperliche Grenzen zu übersehen, lehnen Hilfe, die ihnen angeboten wird ab und entwickeln in Folge dessen häufig behandlungsbedürftige Depressionen oder Burn-outs, greifen zu Suchtmitteln und Medikamenten oder zeigen sogar körperliche Ausfallsymptome wie Lähmungen.

"Für viele ist es schwierig, eigene Bedürfnisse überhaupt nach wahrzunehmen, geschweige denn zu äußern", weiß die Psychologin. In einer Psychotherapie kann man das aber wieder lernen und ebenso auch, den Fokus wieder auf sich selbst zurichten und Dinge auszuprobieren, die der eigenen Person gut tun. Dazu kann es notwendig sein, zunächst tiefenpsychologisch den Blick zurück in die Lebensgeschichte zu werfen und die Ursachen aufzuspüren, die am eigenen Selbstwertgefühl genagt haben. Eine Verhaltenstherapie kann den Betroffenen helfen, Kompetenzen und Strategien zu erlernen, um aus der Spirale herauszukommen. Neben Selbsthilfegruppen, finden Betroffene über die Krankenkassen Psychotherapeuten, die ihnen dabei helfen.


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