Schon Kinder stehen unter Druck

Ich kann nicht mehr denken." Mit diesem erschütternden Satz fasste ein Schulkind sein Leben zusammen und hoffte, bei Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort Hilfe zu finden. Immer mehr Kinder leiden unter Stress, erklärt der Autor des Buches "Burnout-Kids" jetzt: "Wenn man erschöpft ist, fühlt man sich müde, kann sich schlecht konzentrieren, die Gedächtnisleistung ist verringert. Ein Teufelskreis."

Das Wort Burn-out war früher für Manager reserviert, "aber die Symptome zeigen sich auch bei Kindern", erklärt der Leiter der Hamburger Kinderpsychiatrie-Uniklinik im KURIER-Interview. Die Universität Bielefeld stellte kürzlich fest, dass jedes sechste deutsche Volksschulkind und jeder fünfte Jugendliche unter Stress leidet. Neben Schule und Freizeitprogrammen fühlen sich 80 Prozent der gestressten Jugendlichen durch Aufgaben im Haushalt überlastet. Manche müssen allerdings frühzeitig ihre Eltern entlasten.


Rund um die Uhr

Schulte-Markwort beobachtet viele Gründe für die Erschöpfungsdepression. Etwa die Zeiteinteilung mit mehr als 30-Stunden-Wochen: "War früher nach den Hausaufgaben freie Zeit, so gibt es heute den außerschulischen Musikunterricht, das Üben und den Sportverein", kritisiert er.


Foto: dapd/Joern Haufe

In drastischen Worten beschreibt er, wie die Leistungsgesellschaft die junge Generation überfordert: "Das ist kein Prinzip, das ihnen von außen übergestülpt wird, sondern das von Beginn ihres Lebens an verinnerlicht ist und eine Eigendynamik entwickelt."

Selbst wenn die Umwelt nicht bewusst Druck macht, haben vor allem Mädchen das Gefühl, dass sie nicht gut genug sind. "Jungs finden leichter ein Ventil, um ihren Stress abzubauen. Einerseits lassen sie Misserfolg besser an sich abprallen, andererseits können sie beim Sport oder bei Computerspielen besser abschalten. Mädchen kommen aus der Stress-Spirale kaum heraus", so Schulte-Markwort.

Vom Lernen abhalten

Er klärt daher wichtige Fragen zur schulischen Leistungsfähigkeit vor einer etwaigen Therapie ab. Kann ein Kind mit der Klasse gut mithalten und macht sich selbst den Druck oder wäre es in einem anderen Lernumfeld besser aufgehoben? Die Überforderung kann ja berechtigt sein, weil ein Kind dem Unterricht nicht gut folgen kann.

"So absurd es klingt: Manchmal ist es die Aufgabe der Eltern, ihr Kind vom Lernen abzuhalten. Sie müssen ihrem Kind klarmachen, dass auch eine nicht perfekte Leistung gewürdigt wird", betont Schulte-Markwort.

Die Schule ist ein wichtiger, aber nicht der alleinige Faktor, betont der Psychiater. Er verweist dabei auf das soziale Leben im Internet: "Kinder wachsen heute damit auf, dass ihr Leben zumindest in Teilen öffentlich ist." Online zählen die Menge der Facebook-Freunde und die Bewunderung der anderen. "Wenn das Ziel, mit dem Kids sich im Spiegel messen, unerreichbar geworden ist, entsteht eine Abwärtsspirale", warnt der Psychiater. "Das hohe Tempo im Netz und der massive Druck Gleichaltriger, nicht auszusteigen, erhöht die Geschwindigkeit des Laufbands, auf dem sich die Kinder bewegen."


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Was ist uns wichtig?

Bei überforderten Kindern gehe es auch um die Familienwerte, betont Schulte-Markwort: "Aus dem Kampf um das Materielle kann schnell ein Teufelskreis werden, in dem sich alle abgekämpft und irgendwann erschöpft voneinander abwenden. Erschöpft vom Kleinkrieg um Äußerlichkeiten."

Beunruhigt werden sie von echten Kriegen: "Sie nehmen unser eigenes Erschrecken wahr – und unsere Hilflosigkeit. Es gibt unsere behütete Welt. Aber die andere, globale Welt ist zersplittert."

Inseln der Gemeinsamkeit schaffen

Wie Eltern Kinder und sich selbst vor Überlastung schützen können? "Zeit mit der Familie ist der beste Schutz der Kinder vor einer Überforderung. Nur durch einen ständigen Kontakt können Eltern früh reagieren, wenn der Anstrengungspegel der Kinder steigt“, betont Psychiater Michael Schulte-Markwort. Begegnungen auf Augenhöhe fordert der Buchautor: „Je enger der Spielraum der Kinder ist und je mehr sie von ihren Eltern kritisiert werden, desto schwieriger ist ihre Entwicklung zu einer eigenständigen Persönlichkeit. Doch genau das brauchen wir: Kinder, die Leistung positiv sehen und stressresistent sind.“


Foto: kristall/Fotolia

 
Er hat für eine gesunde Entwicklung der Kinder ein effizientes Rezept: „Alle Familienmitglieder setzen sich mit ihren Kalendern hin und schauen, welche Zeit sie zusammen verbringen können. Und solche ‚Inseln der Gemeinsamkeit‘ tragen sie auch ein.“ Für wichtig hält er – so wie die meisten Familientherapeuten –  gemeinsame Mahlzeiten.
Bei dieser Gelegenheit, so der Autor von „Burnout-Kids“, kann jeder gleich überprüfen, ob er etwas streichen kann, denn Kalender von Erwachsenen und von Kindern sind meist zu voll. „Der Terminplan drückt aus, wie wichtig und unabkömmlich man ist“, urteilt er über seine Generation. „Ich bin für meine Kinder ein abschreckendes Beispiel. Ich fürchte, dass sie damit aufgewachsen sind, dass Leben zu einem Großteil aus Arbeit besteht.“

Termine streichen

Familien sollten aber nicht die falschen Kurse streichen, warnt Schulte-Markhof: „Man tendiert dazu, als erstes Musik, Schach oder Sport wegzulassen. Doch wenn genau das für Entspannung sorgt, bringt es dem Kind mehr als es schadet. Weglassen kann man vielleicht statt der Klavierstunde die tägliche Übungseinheit.“
Danach sollten sich Eltern fragen, welche Werte sie den Kindern durch die eigene Lebensführung vermitteln (siehe links). Nicht nur bei der  Zeiteinteilung, auch beim Umgang mit Fehlern, dem Lösen von Konflikten, dem Reflektieren über Probleme, dem Umgang mit Smartphone und Computer.
Außerdem rät Schulte-Markhof: „Streiten Sie für Ihr Kind.“ Eltern sollten von Pädagogen,  Ärzten oder Trainern einfordern, dass sie sich  bestmöglich mit Aufmerksamkeit und Respekt um ihr Kind kümmern.
Zuletzt betont er die Bedeutung  von Entspannung: „Auch Kinder brauchen manchmal Hilfe beim Abschalten, etwa Yoga oder autogenes Training. Oder einfach eine Massage von Mama und Papa.“

Buchtipp:"Burnout-Kids – Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert", Pattloch Verlag 2015, 20,60 €

 

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