Reinhart Scholl kämpft für ein Leben und Sterben in Würde

Reinhart Scholl kämpft. Auf dem großen Schachbrett baut sich ein temperamentvoller Klassiker auf: die „Italienische Partie“. Der 72-Jährige hat es mit einem bärenstarken Gegner zu tun: dem Schach-Computer „Revelation II“. Auch außerhalb der 64 Felder führt der pensionierte Psychologie-Professor einen zähen Kampf: den für das Recht auf „ein selbstbestimmtes Sterben in Würde“. Der Essener ist entschlossen, für die Sterbehilfe vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu klagen. „Ich war mein ganzes Leben lang ein Freigeist, unabhängig und selbstständig – und so will ich auch sterben.“

Seit drei Jahren lebt der Pensionär auf der Fulerumer Straße in einer lichtdurchfluteten, modern und geschmackvoll eingerichteten Neubauwohnung – mit Aufzug und Tiefgarage. Letzteres ist ihm besonders wichtig. Denn derselbe, der auf alten Urlaubsfotos mit freiem, muskulösem Oberkörper im Wüstensand der Sahara stolz vor seiner Yamaha posiert, schleppt sich jetzt mit aller Kraft durchs Appartement. Ohne Rollator geht gar nichts mehr. „Ich kann nur noch 20 Meter laufen, dann sind meine Kräfte erschöpft.“

Scholl leidet unter unheilbarer Krankheit

Scholl, seit 1979 geschieden und kinderlos, leidet unter dem „Immobilitätssyndrom“, in seinem Fall eine entwickelte Form der Altersgebrechlichkeit, unheilbar und unumkehrbar. Ein schleichendes Leiden, das ihm seit etwa sieben Jahren zusetzt. Fast beiläufig erwähnt er die jüngsten Krebserkrankungen: zuerst Prostata-, dann Nieren- und zuletzt Blasenkrebs. Alle drei hat er, der Kämpfer, besiegt. „Seit zwei Jahren bin ich krebsfrei.“

Der Tod, das Sterben, die Sterbehilfe – für viele ein Tabu. Nicht so für Scholl: „Ich setze mich schon seit zehn Jahren damit auseinander.“ Vor etwa drei Jahren schließlich wurde er Mitglied im umstrittenen Verein „Sterbehilfe Deutschland“ (StHD) des früheren Hamburger Justizsenators Roger Kusch – mit der festen Absicht, dass ihm eines Tages jemand den Giftbecher reiche. „Ich möchte den Freitod dann, wenn das Leben lebensunwert geworden ist – aber die Maßstäbe setze ich.“

Vor gut einem Jahr erhielt er den Brief, in dem ihm die „StHD“ das ersehnte „grüne Licht“ gibt. Dafür hat er die Patientenverfügung und den Fragebogen ausfüllen müssen, ein Videointerview gegeben und sich psychiatrisch begutachten lassen. Im Brief heißt es nüchtern, fast konspirativ: „Falls Sie insoweit mit uns in Kontakt treten wollen, schreiben Sie uns einen Brief ohne Absender, nur mit den Worten ‚Mitglied 569 will Kontakt‘.“

Bundestag hat „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ verboten

Doch dazu wird es nicht mehr kommen. Anfang November hat der Bundestag die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ verboten. Danach dürfen Vereine wie Kuschs „StHD“ – unter Androhung von bis zu drei Jahren Haft – keine Beihilfe mehr zum Suizid als Dienstleistung anbieten. Von 7000 Euro Honorar ist die Rede und von einem unlauteren Geschäft mit dem Sterben. Doch Scholl schüttelt den Kopf und hält seine weitaus geringeren Ausgaben dagegen: 1100 Euro fürs Gutachten und je 200 Euro Jahresbeitrag. Sodann wettert er gegen Palliativstationen, Krankenhäuser und Hospize. „Sie sind es, die ein Geschäft mit dem Tod machen.“

Sterbenskrank sei er nicht, aber das „grüne Licht“ wirke auf ihn ungemein entspannend. Auf dem Couchtisch steht ein Pokal, die Urkunde weist ihn als Gruppensieger der Deutschen Amateurschachmeisterschaft 2015 aus. Und in fünf Monaten – der Trip ist längst gebucht – will er bei der Amateur-WM auf der griechischen Insel Kos an den Start gehen. „Schach ist ein unsterbliches Spiel“, sagt er, und philosophiert nicht über den Tod, sondern übers Leben. „Schach macht mein Leben lebenswerter und gibt mir Lebensfreude.“ Reinhart Scholl kämpft weiter.

Gerd Niewerth

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