Bei unserer Beschäftigung mit der lamarckistischen Biologie, manche sprechen von »Lamarxismus«, haben wir den sowjetischen Forscher Iwan Pawlow links liegen gelassen. Seine Experimente an Hunden, die er am laufenden Meter verbrauchte, schreckten uns ab. Aus Pawlows Theorie über die bedingten Reflexe entwickelte sich in den USA – maßgeblich vorangetrieben durch B.F. Skinner – der Behaviorismus, eine scheußliche Ratten-Psychologie, die der »Konditionierung« durch Umwelteinflüsse quasi-lamarckistisch große Bedeutung beimißt. Diese Verhaltensforschungen konkurrierten etwa mit denen des Nazi-Ethologen Konrad Lorenz, für den eben der angeborene Instinkt weitgehend das Verhaltensrepertoire der Arten bestimmt.
Aus dem Instinkt wurden bald die Gene. Und aus der Hundequälerei wurde eine moralische Politik, als der Pawlow-Schüler Sergej Tschachotin im Mai 1932 in der Arbeiterstadt Offenbach gegen den erstarkenden Faschismus seine Theorie von der »Reflex-Konditionierung« ins Feld führte, d.h. anwandte. Seine Kampagnen für die »Eiserne Front«, einer militanten Untergruppe der Sozialdemokratie, mobilisierten allein in Hessen 10000 Aktivisten. Tschachotin sprach von einem »psychogeographischen Guerillakrieg«. Zusammen mit dem Reichstagsabgeordneten Carlo Mierrendorff veröffentlichte er 1932 die Broschüre »Grundlagen und Formen politischer Propaganda«. Tschachotins politische und wissenschaftliche Aktivitäten sind sowohl in der Sozialdemokratie als auch in der Wissenschaftsgeschichte untergegangen. Seinen Widersachern in Deutschland galt er als »Auge Moskaus«, in Rußland nannte man ihn den »Roten Goebbels«. In der Tat richteten sich seine antifaschistischen Propagandaaktionen »Der Rote Dreipfeil« auch gegen den Bolschewismus.
Margarete Vöhringer vom Berliner Zentrum für Kulturforschung hat über sowjetische »Avantgarde und Psychotechnik« promoviert und Tschachotin vor kurzem einen Aufsatz gewidmet: »Was hat der physiologische Reflex mit Kunst, Medien und Politik zu tun?« Anlaß war der Ende Februar in den Kinos angelaufene Film von Boris Hars-Tschachotin über seinen Urgroßvater Sergej, der vor den Nazis nach Paris floh, wo er 1941 verhaftet wurde. Er überlebte das deutsche Internierungslager von Compiègne und gelangte nach dem Krieg über Umwege wieder nach Rußland, wo er bis zu seinem Tod 1973 weiterforschte. »Sergej in der Urne« heißt die Dokumentation über ihn, die u.a. von der Bundeskulturstiftung finanziert wurde. Neben seinem Urenkel, dem 1973 geborenen Regisseur, wirkt noch ein Dutzend weiterer Nachkommen mit.
Zum Mikrobiologen ausgebildet wurde Sergej Tschachotin in Rußland (wo er zur Studentenbewegung gehörte) und Deutschland (hier protegiert von Albert Einstein). Später nahm er eine Professur in Zagreb an, erfand ein »Strahlenskalpell«, das ihn laut Vöhringer zu einem Wegbereiter der Lasertechnik machte, und entwickelte Vernetzungssysteme für die Wissenschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte er sich gegen die Atombombe. Er wurde immer wieder gezwungen, seinen Wohnort zu wechseln, »und während all dieser rastlosen Jahre heiratete er (nacheinander) fünf Frauen und zeugte acht Söhne«, wie der Spiegel zum Kinostart von »Sergej in der Urne« voller Achtung vermerkte. Vier von Tschachotins Söhnen leben noch. Im Wohnzimmer des einen in Paris stieß der Regisseur auf eine Urne mit der Asche des Forschers. Probleme mit ihrer Bestattung auf Korsika sind Teil des Films.
Die von Pawlow begründete Geschichte des »Reflex«-Begriffs wird in Vöhringers Aufsatz als Voraussetzung für Tschachotins Agitationsanstrengungen herausgestellt. Als weiteren Pawlow-Schüler erwähnt die Kulturforscherin den Arbeitspsychologen Wladimir Bechterev, von dessen Forschungen Tschachotin einiges übernahm, wie Vöhringer in ihrer Doktorarbeit genauer ausführt. Bechterevs »Kollektive Reflexologie« war bereits auf »die Erforschung des Entstehens, der Entwicklung und der Tätigkeit von Versammlungen« gerichtet. Tschachotin machte daraus in Deutschland ab 1931 eine »politische Propaganda«, um die »Massen zu lenken und ihrem Zweck zuzuführen«. 1939 erschien sein letztes Buch zu diesem Thema – und gegen den Faschismus: »Die Vergewaltigung der Massen« – auf Französisch und Englisch, wobei er sich bewußt war, daß es »zu spät« kam: »Wir sind im Krieg«.