Rattenhirn im Computer nachgebaut

So viel PR-Aktivität für eine eigentlich sperrige Fachpublikation ist eine grosse Seltenheit. Die ETH Lausanne kontaktierte bereits Tage im Voraus Medien, lieferte Vorabmaterial und Adressen von möglichen Gesprächspartnern. Später schaltete sie auch noch ein aufwendig produziertes Video auf, in welchem ­beteiligte Forscher die Bedeutung ihrer Arbeit zu erklären versuchen – unterlegt mit sphärischen Klavierklängen. Und Henry Markram, der charismatische, viel kritisierte Forschungsleiter an der ETH Lausanne, nahm sich Zeit für ausführliche Einzelinterviews. Noch vor wenigen Monaten stand er den Medien nicht zur Verfügung.

Grund für die intensiven Kommunikationsanstrengungen ist eine Veröffentlichung im angesehenen Fachblatt «Cell», die es in sich hat. Ein von der ETH Lausanne koordiniertes internationales Konsortium mit 82 Forschern aus 18 verschiedenen Labors hat versucht, ein Stück eines Rattengehirns digital zu rekonstruieren. Die Eckdaten der Simulation lassen den riesigen Aufwand erahnen: 31'000 Neuronen, 55 Zelllagen, 207 Neuronentypen und 40 Millionen Synapsen soll das digitale Hirnstück umfassen. «Die Veröffentlichung ist das Resultat von 20 Jahren Forschungsarbeit im Labor und am Computer», sagt Henry Markram. Es sei das, was er 2005 versprochen habe, «der Beweis, dass die digitale Rekonstruktion von Gehirnstrukturen funktioniert». Nach der intensiven Kritik der letzten Zeit ist das Paper endlich eine gute Nachricht für das Human Brain Project (HBP) und dessen Kopf Henry Markram. Das gross angelegte Vorhaben, an dem über 100 Partner weltweit beteiligt sind, soll während der nächsten zehn Jahre rund eine Milliarde Euro kosten. In dieser Zeit wollen die Forscher ein menschliches Gehirn digital rekonstruieren. Ein Ansinnen, das viele Neurowissenschaftler für illusorisch halten. Sie ärgern sich darüber, dass das Projekt so viele Gelder bindet, die anderswo für andere Forschungsvorhaben fehlen. In der Kritik war auch das intransparente Management des HBP. Ein offener Protestbrief mit 800 Unterzeichnern sowie zwei Expertenberichte führten dazu, dass nun die Organisationsstruktur und Projekte angepasst werden müssen.

Die Veröffentlichung im Fachblatt «Cell» könnte sich positiv auf den weiteren Verlauf und die Finanzierung des Projekts auswirken. Auch wenn sie genau genommen ein Resultat des Blue Brain Project ist, eines wichtigen, fast gänzlich von der Schweiz finanzierten HBP-Teilvorhabens.

«Noch nicht perfekt»

Der Versuch einer digitalen Hirnrekonstruktion bedeutet allerdings nicht, dass der Computer nun denken oder fühlen könnte. Die Forscher beschränkten sich auf ein Drittel Kubikmillimeter der Hirnrinde einer Ratte, der unter anderem für den Tastsinn zuständig ist und den Neurowissenschaftler weltweit seit Jahren intensiv untersuchen. Dadurch ist zwar eine beträchtliche Menge an ­Daten aus Laborversuchen angefallen, für den ­Rekonstruktionsversuch reichte es ­jedoch trotzdem nicht. Es sind schlicht zu viele Neuronen und Synapsen, um ­deren Funktionsweise einzeln zu ­messen.

«Es ist auch gar nicht notwendig, alle diese Daten zu haben», ist Markram überzeugt. «Weil das Gehirn streng organisiert und strukturiert ist, benötigten wir vor allem Regeln und Prinzipien.» Je nach Neuronentyp wussten die Forscher aus Experimenten, wie viele und nach welchen Regeln bestimmte Hirnzellen eine Verbindung mit anderen eingehen. Und so konstruierten sie das Netzwerk der Nervenzellen schliesslich mittels mathematischer Algorithmen.

In einem nächsten Schritt überprüften die Neurowissenschaftler ihre Simulation an Versuchen mit lebenden Zellstrukturen. «Dabei fanden wir unglaubliche Übereinstimmungen», so Markram. Wenn das Neuronennetz stimuliert wurde, zeigte sich zum Beispiel, dass die Aktivität gewisser Neuronen sowohl im Laborversuch als auch im digitalen ­Modell eng synchronisiert mit benachbarten Zellen war. Andere Nervenzellen agierten hingegen als «Solisten». Übereinstimmung fanden die Forscher auch bei einem Phänomen, bei dem drei Nervenzellen abwechselnd im Abstand von Millisekunden untereinander elektrische Signale austauschen. Zudem konnten sie zeigen, dass sie im Modell den ­Zustand des Gehirngewebes von Schlaf zu Wachzustand verändern konnten, ­indem sie einzig die Kalziumkonzentration veränderten, wie dies aus Labor­experimenten bekannt ist.

«Die Rekonstruktion ist ein erster Entwurf, sie ist nicht komplett und noch nicht eine perfekte Replikation eines biologischen Gewebes», betont Henry Markram. Die Daten und Resultate seien nun für andere Forscher für eine Überprüfung verfügbar. «Wir hoffen auf Rückmeldungen von der Community», sagt er. «Viele werden weiterhin nicht einverstanden sein mit unserer Forschung.» Als Nächstes wollen er und sein Team ihr Modell verbessern und mit fehlenden Strukturen ergänzen, insbesondere mit Stützzellen (Glia-Zellen), Blutgefässen und der Fähigkeit, sich zu verändern (Plastizität).

Augenwischerei betrieben

«Hut ab vor der organisatorischen Leistung, mit der das Grossprojekt vorangetrieben wird», sagt Andreas Herz. Der Neurowissenschaftler von der Ludwig-Maximilians-Universität München ist ein wichtiger Kritiker des HBP und war auch an einem der Expertenberichte beteiligt. Doch trotz des Lobs überzeugt ihn die «Cell»-Veröffentlichung nicht. Herz widerspricht vehement der Behauptung von Markram, dass es für sein Replikat trotz Datenlücken keine weiteren Messungen brauche: «Erst wenn man die Funktion eines komplexen biologischen Systems verstanden hat, weiss man, welche Komponenten wichtig sind und welche vernachlässigt werden können.»

Auch die Tatsache, dass das Modell zu Messresultaten passt, ist für Neuroforscher Herz kein Beweis für dessen ­Relevanz. «Auf den ersten Blick bestätigt dies Markrams Ansatz. Doch fehlen bei der Simulation wichtige Zelltypen und biologische Prozesse», sagt er. Gelinge es trotz dieser Lücken, das Modell mit ausgewählten experimentellen Daten in Einklang zu bringen, bedeute dies, dass viele Modellparameter nicht der Realität entsprechen – mit massiven Folgen für die Vorhersagbarkeit des Modells.

Herz hält an seiner grundsätzlichen Kritik fest, dass es nicht möglich sei, ein Gehirn im Computer zu replizieren. Es werde Augenwischerei betrieben, wenn anderes behauptet werde. «Hier wird viel Geld ausgegeben, obwohl die prinzipiellen Schwächen allen seit langem bekannt sind.»

(DerBund.ch/Newsnet)

(Erstellt: 08.10.2015, 20:11 Uhr)

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