Rangelei oder kurzer Kampf: Erinnerung bekommt Löcher – n

Gestellte Szene: Polizisten der Bereitschaftspolizei Böblingen demonstrieren im Rahmen einer Presse-Vorführung eine Prügelei zwischen rivalisierenden Hooligans.

Gestellte Szene: Polizisten der Bereitschaftspolizei Böblingen demonstrieren im Rahmen einer Presse-Vorführung eine Prügelei zwischen rivalisierenden Hooligans.(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Sonntag, 18. März 20122012-03-18 13:11:26


Polizisten erinnern sich besonders gut an Details von Rangeleien und Überfällen – davon gehen zumindest viele Richter und Anwälte aus. Doch genau das Gegenteil sei häufig der Fall, warnen Psychologen im Journal "Psychological Science".

Wer physisch in eine Auseinandersetzung
verwickelt wird, erinnert sich viel schlechter an deren Details als Unbeteiligte.
Dies gilt schon für eine kurze, intensive Rangelei. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler
um Lorraine Hope von der Universität von Portsmouth in Großbritannien. Sie hatten
52 kanadische Polizisten mit im Schnitt achtjähriger Berufserfahrung in ihre Analyse
einbezogen. Die 42 Männer und 10 Frauen wurden zunächst detailliert über eine Serie
bewaffneter Raubüberfälle informiert. Die Forscher erklärten, wie die Überfälle
genau abliefen und was Zeugen zu den Tätern angaben. Anschließend wurde die Gruppe
aufgeteilt.


Christopher Chabris und Daniel Simons gehen in Der unsichtbare Gorilla der Unaufmerksamkeitsblindheit auf den grund.

Christopher Chabris und Daniel Simons gehen in "Der unsichtbare Gorilla" der Unaufmerksamkeitsblindheit auf den grund.

Eine Hälfte musste zunächst
bis zur Erschöpfung einen knapp 140 Kilogramm schweren Sack attackieren – nach Belieben
mit Füßen, Fäusten oder Ellenbogen. Alle 52 Teilnehmer wurden anschließend paarweise
einer gestellten Notsituation ausgesetzt: Sie sollten in einen gut 40 Meter entfernten
Wohnwagen gehen, in dem sie einen Verdächtigen vermuteten. Kurz nachdem sie den
Wagen betreten hatten, stürmte der Täter laut schreiend aus einem Nebenraum auf
sie zu.

Anschließend wurden die
Polizisten umfassend befragt. Dabei zeigte sich, dass sich die Teilnehmer, die sich
zuvor körperlich verausgabt hatten, deutlich weniger detailliert an das Geschehen
im Wohnwagen erinnerten – und zudem häufiger falsche Angaben machten. Auch Details
der einführenden Informationen waren ihnen verstärkt abhanden gekommen.

Dass ihnen auf dem Weg
zum Wohnwagen ein Komparse begegnet war, wusste nur noch ein Drittel. Bei den Polizisten,
die sich nicht körperlich verausgabt hatten, konnte hingegen in 90 Prozent mindestens
ein beschreibendes Detail von ihm nennen. Doppelt so viele wie von der anderen Gruppe
erkannten außerdem bei einer Gegenüberstellung den Verdächtigen aus dem Wohnwagen
wieder.

Lückenhaft und teilweise
falsch

Gerichte sollten daher
berücksichtigen, dass sich Polizisten, Zeugen und Opfer viel lückenhafter und teilweise
falsch erinnern, wenn sie in eine physische Auseinandersetzung verwickelt waren,
fordern die Wissenschaftler. Die Aufmerksamkeit sei auf den Kampf gerichtet, dem
Gehirn bleibe damit weniger Kapazität, selbst hoch relevant scheinende Aspekte zu
verarbeiten. Nur was verarbeitet werde, könne aber als korrekte Erinnerung gespeichert
werden, erläutern die Forscher, zu denen auch Experten des Force Science Institute
in Mankato (Minnesota/USA) gehören.

Eine üble Falle: Die meisten
Menschen glauben bei Extremereignissen, wie den Terroranschlägen vom 11. September,
sie könnten sich sehr genau an jedes Detail des Tages erinnern. Studien haben aber
gezeigt, dass viele der so sicher geglaubten Erinnerungen falsch sind. Wie sehr
die meisten Menschen ihre kognitiven Leistungen überschätzen, haben die Psychologie-Professoren
Christopher Chabris und Daniel Simons in ihrem Buch "Der unsichtbare Gorilla"
(Piper Verlag, ISBN 9-783-4920-5351-8) beschrieben.

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"Wir nehmen von unserer
visuellen Umwelt viel weniger wahr, als wir glauben", betonen sie darin. Unaufmerksamkeitsblindheit
heiße dieser Effekt. Der führe nicht nur dazu, dass die meisten Menschen selbst
grobe Fehler in Hollywoodfilmen übersehen. Er könne auch die Aussagen von Zeugen
komplett verfälschen.

Als tragisches Beispiel
führen die Autoren die Attacke auf einen Polizisten schwarzer Hautfarbe nach einer
Schießerei in Boston im Jahr 1995 an. Der Mann wurde von Kollegen, die ihn angeblich
mit dem flüchtenden Täter verwechselten, an einem Zaun zusammengeschlagen.

Ein Polizist, der direkt
daneben dem über den Zaun flüchtenden Angreifer folgte, wurde später vor Gericht
befragt. Er gab an, nichts von der Prügelei mitbekommen zu haben – und wurde wegen
Meineids und Behinderung der Justiz zu monatelanger Haft verurteilt. Es sei aber
gut möglich, dass der Mann tatsächlich nichts bemerkt habe, schreiben Chabris und
Simons. Schließlich sei er auf die Verfolgung fixiert gewesen und habe alles andere
ausgeblendet.

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Quelle: n-tv.de

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