Psychologie: Wozu es gut ist, in Farben zu denken

Wer ein „R“ schreiben will, kann erst ein „P“ schreiben und dann einen Strich hinzufügen. So lernen es viele Kinder, aber manche haben dabei ein besonderes Erlebnis: „Ich war überrascht, dass ich dadurch – durch das Hinzufügen eines Strichs – einen gelben Buchstaben in einen roten verwandeln konnte“, erinnerte sich Pat Duffy, eine Frau, die zu den zwei bis vier Prozent der Menschen gehört, bei denen die Wahrnehmungen der einzelnen Sinne nicht klar getrennt sind, sondern in mehreren Modalitäten zugleich kommen: Dann sind etwa schwarz auf weiß geschriebene Buchstaben nicht nur Zeichen, sondern haben auch verschiedene Farben – jedes seine eigene –, das ist die häufigste Form der Synästhesie, die Graphem-Farb-Synästhesie.

Aber es geht kreuz und quer: Manche riechen Töne, andere schmecken Farben – 60 verschiedene Verknüpfungen sind bekannt –, es können auch mehrere Sinne mitspielen, bis zu fünf. Dieses Phänomen weckte erstmals 1812 das Forscherinteresse, aber auch fast 200 Jahre später ist nicht geklärt, was da vor sich geht. Fest steht nur, dass Synästhesie kein Leiden ist, sondern den Geist beflügelt: Pat Duffy wurde Forscherin – sie erkundet Synästhesie –, Albert Einstein erdachte seine Formeln in farbigen Kringeln, Richard Feynman tat es ähnlich. In den Künsten reicht die Liste von Liszt und Kandinsky bis zu Syd Barrett (Pink Floyd) und David Hockney, die Literatur ist mit Wladimir Nabokov dabei; die wunderlichsten Leistungen allerdings vollbringen Gedächtniskünstler, der britische Autor Daniel Tammet etwa kann durch die Kombination von Formen und Farben die Zahl Pi auf 22.514 Stellen hinter dem Komma aufsagen.

 

Auch LSD verleiht die Gabe

Wo kommt das her, aus den Genen, aus der Umwelt? Synästhesie vererbt sich in Familien – bei synästhetischen Eltern liegt die Chance auf ebensolche Kinder bei 50 Prozent –, aber ein rein genetisches Phänomen ist sie nicht: Oft haben Kinder andere Synästhesien, und von eineiigen Zwillingen hat sie nur einer. Vor allem aber kann jedermann das Phänomen erleben – unter dem Einfluss halluzinogener Drogen wie LSD –, und mancher muss es, es kann sich nach Hirnverletzungen oder dem Verlust einzelner Sinne einstellen.

Es muss also eine Basis in jedem Gehirn geben, die bei Synästheten dann anders ausgeprägt ist: Entweder sind die räumlich gut getrennten Zentren für die Verarbeitung der einzelnen Sinne bei ihnen stärker miteinander verschaltet, oder die Kommunikation zwischen ihnen wird schwächer unterdrückt. Ausgehen könnte alles vom Sehzentrum, vermutet Devine Turhene (Oxford): Er hat diese Hirnregion bei Synästheten und Nichtsynästheten mit Magnetfeldern gereizt, Synästheten wurden viel empfindlicher für schwer wahrnehmbare optische Reize, Nichtsynästheten nicht (Current Biology, 17.11.).

 

„Sensorische Kreuz-Aktivierung“

Diese „Überregbarkeit“ eines Zentrums bringt verstärkte Verknüpfungen mit anderen Zentren, schließt Turhene, der sich dabei mit V. Ramachandran (UC San Diego) trifft: „Sensorische Kreuz-Aktivierung“ steht für ihn hinter dem Phänomen, er hat schon viele Belege zusammengetragen und geht nun gemeinsam mit David Brang der Frage nach, warum Synästhesie im Zuge der Evolution nicht schon längst – als überflüssig, vielleicht auch verwirrend – ausgeschieden wurde. Das könnte daran liegen, dass Synästhesie Kreativität fördert – und dass Gesellschaften zu allen Zeiten ihre Kreativen förderten.

Zum anderen könnte Synästhesie auch „das extreme Ende des ganz normalen Zusammenwirkens aller Sinne sein, das uns allen dabei hilft, Reize der Umwelt zu verarbeiten“, erklärt Brang der „Presse“. Das ergäbe auch für Ramachandran eine „provokative evolutionäre Hypothese“: Synästheten könnten Umweltreize und Erinnerungen effektiver verarbeiten (PLoS Biology, 22.11.).

Dann allerdings stellt sich die Frage umgekehrt: Warum haben wir nicht alle die Gabe? Man kann sie imaginieren – Rimbaud und Baudelaire etwa haben es getan –, erlernen aber kann man sie nicht. „Ich habe über die Jahre zwar Präferenzen für Assoziationen entwickelt, etwa dafür, dass ,2‘ blau sein sollte und ,b‘ gelb“, berichtet Brang: „Ich bilde diese Assoziationen, aber sehen kann ich sie überhaupt nicht.“ Vielleicht sollte er dem Labor seines Kollegen Turhene einen Besuch abstatten, denn der hat noch ein Experiment unternommen, ein spukhaftes: Diesmal hat er Hirnregionen nicht mit magnetischen Feldern beeinflusst, sondern mit elektrischen, man kann damit das elektrische „Feuern“ der Hirnzellen anregen oder dämpfen. Damit konnte er Synästhesie steuern, verstärken oder abschalten.

Das abschließende Experiment – kann man auf diesem Weg Nichtsynästheten zu Synästheten machen? – steht noch aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2011)

Leave a Reply